Berlin. Als “Tunnelgangster“ gingen sie vor 28 Jahren in die Berliner Kriminalgeschichte ein. Warum scheiterte der Fluchtplan der Geiselnehmer?

Tagelange Verhandlungen mit der Berliner Polizei, 16 Geiseln und erbeutetes Geld in zweistelliger Millionenhöhe – dieser True-Crime-Fall der Berliner Geiselnehmer ging als bemerkenswertes Kapitel in die Kriminalgeschichte ein. Doch der Rummel verflog schnell: Die öffentliche Faszination für die scheinbar genialen "Tunnelgangster" von Zehlendorf wurde durch ihre dilettantische Tarnung und einen entscheidenden Fehler zunichte gemacht. Lesen Sie hier die Geschichte eines fast genialen Coups.

Die Geiselnahme in der Commerzbank-Filiale lässt ganz Berlin mitfiebern

Den ganzen Tag hatten die Nachrichten in Radio und Fernsehen viele Millionen über das Geschehen in Zehlendorf auf dem Laufenden gehalten, nicht nur in Berlin. Noch am späten Abend des 27. Juni 1995 stellte man sich die Frage: Wie wollen die vier Geiselgangster da rauskommen aus der Commerzbank-Filiale Matterhornstraße Ecke Breisgauer, die sie morgens um halb elf gestürmt und gleich alle Kunden sowie Angestellten gefesselt hatten?

Polizeibeamte mit kugelsicheren Westen und Spurensicherungsgeräten betreten die überfallene Commerzbank-Filiale.
Polizeibeamte mit kugelsicheren Westen und Spurensicherungsgeräten betreten die überfallene Commerzbank-Filiale. © picture-alliance / dpa | Peter Kneffel

Selbst wenn ihnen ein noch so schnelles Fluchtauto für sich, die vielen Geiseln und die bereits angelieferten Säcke mit den geforderten Millionen gestellt würde? Die massiv präsente Polizei würde sie nicht aus den Augen lassen, würde jeden Meter ihrer Route verfolgen. Und dann? Es würde ausgehen wie alle anderen Geiselnahmen: Nervenkrieg, irgendwann geben die Gangster auf, von Polizeipsychologen zermürbt. Handschellen, Verhör, U-Haft.

Auch in den späten ARD-"Tagesthemen" stand die Geiselnahme an erster Stelle, vor dem Bosnien-Krieg und dem Streit der beiden SPD-Platzhirsche Scharping und Schröder. Von Verhandlungen zwischen der Polizei und den Gangstern wurde berichtet, "noch mehr Geld" von hier, "noch mehr Zeit" von dort, Drohungen, den Geiseln etwas anzutun.

Tunnelgangster aus Berlin
© picture-alliance / dpa | picture-alliance / dpa

Nachbarschaft unterstützt Ermittler bei Untersuchung

Viele in der Nachbarschaft, so hörte man im Fernsehen, halfen. Die Müllmänner hatten ein Riesengefährt quer über eine der möglichen Fluchtstraßen gestellt. Und aus der gegenüberliegenden Sparkasse hatte sich, ganz solidarisch, eine mutige Angestellte angeschlichen, um bei dem VW-Bus, mit dem die Gangster vorgefahren waren, beherzt die Luft abzulassen.

Ob die Polizei das zielführend fand, blieb unklar, längst hatte sie zwei schnelle BMW- und Mercedes-Limousinen bereitgestellt. Alles, um das Leben der Geiseln zu schonen.

Raffinierter Coup: Die überraschende Flucht der Gangster

Aber man sah schon: Es würde so kommen, wie es kommen musste, die Bank war von schwerbewaffneter Polizei nahtlos umstellt, und hoffentlich geschah den Geiseln nichts. Man ging ins Bett. Morgen früh würde alles klar sein. Wieso halten sich Geiselnehmer immer für klüger als alle vorherigen, die sämtlich gescheitert waren?

Die Geiseln nach ihrer Befreiung.
Die Geiseln nach ihrer Befreiung. © picture-alliance / dpa | Gerhard Vick

Ganz früh am nächsten Morgen dann die Nachrichten im Radio: Um kurz nach halb vier hatte die Polizei die Bank gestürmt. Alle Geiseln frei. Aber wo waren die Gangster? Spurlos verschwunden, nicht zu fassen. Mitsamt den fünfeinhalb Millionen Mark. Und dem Inhalt unzähliger Schließfächer. Wie das?

Der geheime Tunnel im Untergrund

Nach und nach, von einer Nachrichtensendung zur nächsten, sickerte dann durch: Im Keller der Bank klaffte ein Loch im Betonboden, vielleicht sechzig Zentimeter weit, das in ein undefinierbares Dunkel führte. Wohin? Kein Kripomann traute sich dort hinein. "Könnte ne Sprengfalle drinne sein", sagte ein Polizist zum Radio,das wieder live dabei war.

"Allet wie bei David Copperfield", scherzte ein Kollege, "wie wegjezaubert". Eine Geisel berichtete über die Täter: "Die hatten sogar Butterbrote für uns dabei und Mineralwasser, haben uns korrekt behandelt." Und schon kippte die Stimmung in der ganzen Stadt zugunsten der Geiselnehmer und ihrem spektakulären Coup.

Gangster überraschen Polizei mit raffiniertem Ablenkungsmanöver

Offenbar waren sie doch klüger als alle vor ihnen, erkannte auch die Polizei an. "Die haben uns bei der Ehre gepackt", meinte ihr Präsident Hagen Saberschinsky zerknirscht, "sie haben mit Raffinesse, vielleicht auch Genialität gearbeitet". Wie Schuppen fiel es nun allen von den Augen: Die stundenlangen Verhandlungen über das Geld und die Fluchtautos, sie sollten nur ablenken - und Zeit für die Tresorknackerei im Keller einbringen, die ein Vielfaches des säckeweise gebrachten Bargeldes einbrachte.

Dem Pressesprecher der Polizei dämmerte nun auch, warum es in den telefonischen Verhandlungen mit den Gangstern nur am Rand um die Modalitäten der Abfahrt ging, bei ähnlichen Fällen schließlich das Hauptthema. "Wir haben uns gewundert, warum die so genügsam sind. Warum haben die nicht weiter um freie Fahrt gepokert?" Jetzt war man im Bilde.

Immer wenn die Polizei mit den Räubern verhandelte, hatte sie einen der Bankangestellten am Apparat, mit genauen Anweisungen ausgestattet. Im Hintergrund stets lautes Gehämmere und Bohrgeräusche. Natürlich, so hatte man vermutet, werde da ein Schließfach nach dem anderen geknackt. Das stimmte zwar, aber, wie man nun erkennen musste, im akustischen Schutz des Gedröhnes knackten sie eben auch den Fußboden, hinein in den Zehlendorfer Untergrund.

Ein Polizeifoto zeigt zwei Koffer mit den ersten vier Millionen DM aus der auf über 15 Millionen DM geschätzten Beute aus dem Tunnelcoup vom Juni 1995 im Berliner Stadtteil Zehlendorf.
Ein Polizeifoto zeigt zwei Koffer mit den ersten vier Millionen DM aus der auf über 15 Millionen DM geschätzten Beute aus dem Tunnelcoup vom Juni 1995 im Berliner Stadtteil Zehlendorf. © picture-alliance / dpa

Verhaftung und Enttäuschung: Die Lösung des Falles

Um ein Uhr nachts stand der letzte telefonische Kontakt. Zu der Zeit lief auch das Ultimatum der Gangster ab, die mehr Geld wollten. Aber es tat sich nichts. Wenig später hörten auch die Geiseln, nach wie vor gefesselt und angebunden, nichts mehr von ihren Peinigern. Dann, nach gut zwei Stunden Stille, gegen drei Uhr, baten sie, mal zur Toilette gelassen zu werden. Erst rief nur einer, bald alle im Chor: "Wir müssen mal!". Keine Reaktion. Waren sie eingeschlafen? Man befreite sich mehr schlecht als recht, der Filialleiter spannte seine Finger bis hin zum Telefon. 110. "Wir glauben, die sind weg." Und man müsse übrigens mal auf die Toilette.

Kurz nach halb vier rückte die Polizei an. Und sah die Bescherung. Durch das Loch im Keller traute sich keiner der Spurensicherer. Man musste also das andere Ende des geheimen Ganges finden, durchkämmte im Laufe des Folgetages die Umgebung. Der Ausgang konnte nur jenseits des engen, während der Tatzeit von der Polizei besetzten Ringes um die Bank liegen, sonst wäre die Flucht gescheitert. Der Blick fiel auf ein Garagengelände in 120 Meter Luftlinie. Und dort durch ein Fenster auf eine frisch zubetonierte Stelle, noch feucht glänzend. Man löffelte die Masse weg: Der Tunnelausgang.

Schluss mit der Aura der genialen Gangster – Ermittlungen beginnen

Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge (r.) und Chefermittler Detlef Büttner informieren über den Stand der Ermittlungen.
Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge (r.) und Chefermittler Detlef Büttner informieren über den Stand der Ermittlungen. © picture-alliance/ ZB | Jens Kalaene

Schluss war es nun bald mit der Aura der genialen Gangster. Zügig nämlich kamen die Ermittler über die Mieter der einen sowie der benachbarten Garage auf die heiße Spur. Die verwickelten sich beim Verhör in Widersprüche, und kurz darauf war die ganze Gang identifiziert: drei Syrer, ein Libanese, ein Italiener und ein Deutscher. Telefonabhörung, Hausdurchsuchungen, und die Beweise waren zusammen. Handschellen, Verhör, U-Haft, also doch.

So kam bald sogar bei der Polizei "Enttäuschung über die Geiselgangster" (Berliner Zeitung) auf, angesichts der dilettantischen Tarnung der Täter. "Die Bewunderung für den brillanten Plan war gewichen." Ein bisschen Achtung kam zurück, als die Ermittler den Tunnelbau rekonstruierten, mithilfe der noch jungen Täter. Der Chef der Sonderkommission Commerzbank freute sich: "Die inhaftierten Männer sprechen mit uns".

Der aufwändige Tunnelbau – Gangster erzählen von Rückschlägen und Hindernissen

Über ein Jahr Schwerstarbeit lag hinter ihnen: erst in vier Metern Tiefe einen 20 Meter langen Tunnel von der Garage zur Straße, dort ein Loch in den Regenwasserkanal unter den Gullideckeln der Matterhornstraße, der ihnen hundert Meter Strecke schenkte. Von dort dann wieder hinaus und noch einmal 50 Meter buddeln bis unter die Commerzbank, immer mit Kompass, Maßband und viel Gefühl im Dunkeln. Und der ganze Abraum durch den fachgerecht balkenbewehrten Tunnel mit 70 mal 70 Zentimeter lichter Breite und Höhe, zurück in die Garage und von dort mit dem VW-Bus in den Wald.

Es gab Rückschläge. Etwa als der Regenwasserkanal volllief und einer der Täter fast ertrunken wäre. Als oben auf dem Gehsteig über dem Tunnel einmal der Bürgersteig absackte, ruhte die Arbeit mehrere Wochen. Bis ein Tiefbauarbeiter kam, alles wieder auffüllte, aber nicht erkannte, was da unten los war. "Es war Freitag, und der Mann war offenbar betrunken", ermittelte die Polizei ein halbes Jahr später.

Der entscheidende Fehler: die Enge des Tunnels

Die letzte Sicherheit darüber, dass sie nach 170 Metern exakt unter dem Tresorraum der Commerzbank angekommen waren, erhielten die Gangster erst, als sie von beiden Seiten gleichzeitig den Kellerboden aufstemmten, in jener Nacht zwischen null und ein Uhr. Und plötzlich zwei Gangster mehr in der Bank standen.

Was die Geiseln allerdings nicht bemerkten. 70 mal 70 Zentimeter. Das war das Maß, durch das alle robben mussten, hin und zurück. Ein Problem: Der Italiener, dies offenbarten die Gangster der Polizei hinterher auch, nahm während der Vorbereitung durch übermäßigen Nahrungsgenuss derart schnell zu, dass man am Ende schnell zur Tat schreiten musste, damit auch er noch durchpasste. Womöglich hatte die Gang deshalb an der Tarnungs- und Vertuschungsarbeit Abstriche hinnehmen müssen. Ihr entscheidender Fehler.