Berlin. 23 Frauenmorde legte die Berliner Polizei dem Hausierer Carl Großmann 1921 zur Last. Ein schockierendes Gerücht hält sich bis heute.

Carl Großmann war ein Serienmörder aus Berlin, dessen Taten bis heute sprachlos machen. Beamte der Berliner Polizei ertappten ihn am 21. August 1921 auf frischer Tat in seiner Wohnung nahe des heutigen Ostbahnhofs in Friedrichshain. Noch bevor er verurteilt werden und der Verbleib Dutzender Frauen geklärt werden konnte, erhängte sich Großmann in seiner Zelle. Sein Fall zählt zu den interessantesten True-Crime-Fällen Berlins. Lesen Sie hier die erschütternde Geschichte des Serienmörders Carl Großmann.

FallSerienmörder Carl Großmann
Tat-Zeitpunkt1918 bis 1921
BesonderheitDie genaue Zahl der Mordopfer
ist bis heute ungeklärt. Bei Großmann
dürfte es sich um den Serienmörder
mit den meisten Opfern in Deutschland
handeln.

Carl Großmann: Rund um den Schlesischen Bahnhof herrschen Mord und Totschlag

Das Engelbecken zwischen Legiendamm und Leuschnerdamm ist damals, im Sommer 1921, für die Wohnhäuser in der Umgebung eine Zumutung. Durch den Luisenstädtische Kanal zwischen Kreuzberg und Stralauer Vorstadt, zu dem der Tümpel gehörte, fahren längst keine Schiffe mehr, das Wasser vermodert, es stinkt. Anrüchig ist die ganze Gegend südlich des Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof) in jenen Tagen sowieso. Das „Chicago Berlins“ nennen es die Berliner. Hier herrschen Mord und Totschlag. Dazu passt nur allzu gut, dass seit 1918 im Engelbecken immer mal wieder Einzelteile von Leichen an die Oberfläche gespült werden. Von insgesamt mehreren Dutzend Dahingeschiedenen, alles Frauenleichen. Ermordet? Ziemlich sicher.

Ein Zeugenaufruf der Berliner Polizei im Fall Carl Großmann.
Ein Zeugenaufruf der Berliner Polizei im Fall Carl Großmann. © Polizeihistorische Sammlung Berlin

Eher um Kleinkriminalität, jedenfalls für die damaligen Maßstäbe dieses Kiezes, geht es immer dann, wenn der Hausierer Carl Großmann das 50. Polizeirevier aufsucht, in der Kleinen Andreasstraße etwas nördlich des Engelbeckens, jenseits der Spree. Regelmäßig und ebenfalls seit 1918 bringt er dabei immer einen Tatbestand zur Anzeige: Seine Wirtschafterin habe ihm Geld gestohlen, seither sei sie weg. Alle jene diebischen Wirtschafterinnen Großmanns, es sind insgesamt wohl 40 oder 50, blieben danach unauffindbar, auch für die Polizei. Man zahle so viel Steuern, so klagt er stets, „und ihr könnt einen nicht gegen dieses Aaszeug schützen“.

Aus der Wohnung von Carl Großmann dringen schrille Schreie

Großmann wohnte im dritten Stock einer Mietskaserne an der Langen Straße in der Nähe des  Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof).
Großmann wohnte im dritten Stock einer Mietskaserne an der Langen Straße in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof). © Polizeihistorische Sammlung Berlin

Großmann wohnt gleich um die Ecke, in der Langen Straße 88, Quergebäude, dritter Stock. Etwas beengt, in einer Wohnküche, dem einzigen Raum. Die Nachbarn wundern sich, ja, bewundern ihn auch ein wenig, wie sich der zuletzt 57-jährige mit andauernd neuen, deutlich jüngeren Frauen umgeben kann. Ab und zu wird es laut in seiner Wohnung, die Frauen schreien, auch mal laut und schrill, aber von so etwas sind viele Hinterhöfe in der Gegend durchdrungen. Hier und da riecht es im Treppenhaus, besonders auf Großmanns Stockwerk. Wo er herkam, was er früher gemacht hatte, weiß keiner. Nur soviel: Er verdient sein Geld als Hausierer, hatte mal bei einem Schlachter gearbeitet und unterhält am Schlesischen Bahnhof einen Wurststand, wo er auch Fleischkonserven verkauft.

Großmann hatte keine einfache Jugend. 1863 wurde er in Neuruppin geboren, sein Vater war Lumpensammler, Alkoholiker, ein Schläger. Die Schule brach Carl nach der dritten Klasse ab, lernte keinen Beruf. Kurz lebte er in Berlin, beging Straftaten, kam ins Zuchthaus, weil er ein vierjähriges Mädchen vergewaltigt hatte. Nach der Entlassung stand er vor Gericht wegen Sodomie mit einer Ziege, missbrauchte weiterhin Kinder, ein – erneut – vierjähriges Mädchen überlebte die Tat nicht. Wieder kam er in Zuchthaus, für 15 Jahre dieses Mal, verprügelte Mitgefangene. Von all dem wussten weder seine Nachbarn in der Langen Straße, noch die Frauen, die der Reihe nach bei ihm als Wirtschafterinnen anfingen – und offenbar auch niemand im Polizeirevier 50 in der Kleinen Andreasstraße.

In dieses Revier kommt am Abend des 21. August 1921 gegen 21.30 Robert Iglitzki, Wohnungsnachbar von Großmann, in Alarmstimmung. Aus Großmanns Wohnung kämen gerade markerschütternde Schreie, röchelnde Hilferufe, Geräusche von heftigen Schlägen mit schweren Gewichten. Offenbar ginge es um Leben und Tod. In der Dienststelle ist Großmann natürlich bestens bekannt. Erst am Vortag war er wieder da, hat Anzeige erstattet, weil wieder mal eine diebische Wirtschafterin spurlos verschwunden sei. Ob den Wachhabenden in dem Moment etwas dämmerte?

Die Polizei schlug die Tür ein und fand Großmann nackt und völlig blutbesudelt vor. In einem der zwei Betten lag sterbend ein entkleidetes und blutüberströmtes Mädchen.
Die Polizei schlug die Tür ein und fand Großmann nackt und völlig blutbesudelt vor. In einem der zwei Betten lag sterbend ein entkleidetes und blutüberströmtes Mädchen. © Polizeihistorische Sammlung Berlin

Der Polizist schlägt Großmann die Tasse mit Zyankali aus der Hand

Zwei Beamte eilen zu Großmanns Wohnung, hämmern auf die Tür ein. Minutenlang tut sich nichts. Schließlich schnauzt Großmann sie durch die Tür an, er schlafe längst, „kommse morjen wieder“. Doch die Polizisten lassen nicht locker. Sie treten die Tür kaputt. Und stehen einem von Kopf bis Fuß blutbesudelten Großmann gegenüber. Er schwankt ein wenig, will sich die Tasse, die er in der rechten Hand hält, zum Mund führen. Der Kommissar schlägt sie ihm aus der Hand. Die Spurensicherung wird später feststellen, dass sich in der Tasse halbaufgelöstes Zyankali befand.

Einer der beiden Beamten sichert Großmann, der andere schaut sich um in der kleinen Wohnküche, im trüben Licht einer Gasfunzel. Er wird von Entsetzen gepackt und erschüttert. Auf dem Bett liegt eine Frau, gut 30 Jahre alt. Sie ist gefesselt, aus mehreren Wunden rinnt Blut, vor allem im Unterleib, verteilt in der ganzen Küche. Als der Polizist zu ihr geht, um sie näher zu inspizieren, ihre Herztöne abzuhören, hört er einen dumpfen Schlag, hinter sich. In der Tür ist dem Moment Nachbar Iglitzki zu Boden gegangen, ohnmächtig, ihm hat der Anblick die Sinne genommen. Die Frau ist tot.

Hat Großmann die Leichen zerlegt, um die Leichteile im Engelbecken zu deponieren?

Großmann wird laut, redet etwas von einvernehmlichem Fesselsex, und dann, wieder: „Die hat mich beklaut“. Dabei sei er dann ausgerastet. 300 Mark seien es gewesen. Tatsächlich finden sie die Scheine in den Socken der Frau. Allerdings stark blutbefleckt. Offenbar hat Großmann sie dort hingesteckt, als die Polizisten an der Tür rüttelten.

Als die Beamten mit dem Täter abziehen und am nächsten Tag die Spurensicherung anrückt, müssen sie nicht lange suchen, um auf weitere Beweismittel zu stoßen. Im Ofen der Küche finden sie zwei abgehackte Hände offenbar eines weiteren Opfers. Dann Frauenkleider, blutige Säcke. Und eine Holzbank mit tiefen Einkerbungen. Man darf sie wohl als Schlachtbank bezeichnen, altes Blut und menschliche Überreste deuten an, was auf ihr geschah. Wurden hier die Leichen zerlegt, um sie in Einzelteilen ins Engelbecken zu befördern? Immerhin hatte die Polizei nach den dortigen Funden dem Täter Fachkenntnisse im Zerlegen bescheinigt: Immer an den Gelenken. Großmann, als früherer Metzgersgehilfe, beherrschte das Handwerk. Und die Polizei wird weiter fündig. Auf dem Grundstück einer Laube bei Alt-Landsberg, die er bereits vor Jahren verkauft hatte, entdeckt sie weitere Gegenstände, die aufgefundenen Leichen oder Einzelteilen zugeordnet werden konnten.

Mordkommissar Ernst Gennat.
Mordkommissar Ernst Gennat. © picture alliance / Rolf Kremming

Großmann kommt in Untersuchungshaft, wird verhört, Kriminalrat Ernst Gennat persönlich, kürzlich ernannter Leiter des Morddezernates, leitet die Ermittlungen. Die Mitarbeit Großmanns gestaltet sich zäh. Er gesteht lediglich, drei der Frauen getötet zu haben. „Höchstens fünf, Herr Kommissar“, räumt er zwischendurch auch mal ein, nimmt es wieder zurück. Die Polizeipsychologen sind sich schnell einig, dass es Sexualmorde waren, von einem Täter, der die Erregung genoss, die ihn beim Anblick der Qualen seiner Opfer überkam.

Für seine Verteidigung gewann er einen Spitzenanwalt

Ganz gezielt hatte sich Großmann immer wieder im Schlesischen Bahnhof eingefunden, lockte Frauen zu sich, die dort aus der tiefsten Provinz ankamen, um in Berlin ihr Glück zu suchen. Viele von ihnen hatten keine Ahnung, wo sie nach ihrer Ankunft in der Großstadt, meist in den Abendstunden, andocken sollten. Eine Arbeit als „Wirtschafterin“ in einem Haushalt war für die meisten ein Traum. Großmann lockte sie mit genau dieser Aussicht, erstmal auch mit „‘n Glas Milch und ‘ne Schmalzstulle.“ Und dann landeten sie in seiner Wohnküche. Was damals, in den vom Elend gezeichneten Berlin, auf den ersten Blick nicht so katastrophal wirkte wie es heute wäre. Manche ließen sich auf ihn ein, manche schafften von sich aus nach ein paar Tagen den Absprung, andere nicht.

Großmanns Verteidigungslinie: „Kein Mord, Herr Kommissar, reiner Totschlag.“ Alle hätten ihn beklaut, „und dann im Affekt….“ Er schafft es, den damals stadtbekannten Spitzenanwalt Dr. Dr. Erich Frey für seine Verteidigung zu gewinnen (Frey hat den Fall Großmann in seinem Buch „Ich beantrage Freispruch“ detailliert geschildert). Doch der kann ihm auch nicht viel weiterhelfen, nachdem die Polizei über 20 Frauen auftreiben konnte, die Großmann mehr oder weniger unverletzt überstanden hatten, und nun dessen Grausamkeiten vor Gericht bezeugten. Für 23 weitere Morde meint die Polizei, ausreichend Beweise gesammelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft aber will es bei den drei gestandenen Taten bewenden lassen. Das reiche für die Todesstrafe, warum sich unnötige Arbeit machen? Gennat und seine Ermittler sind erbost, sie wollen alle Fälle geklärt haben. Noch während sie sich streiten, erhängt sich Großmann in seiner Zelle. Verfahren beendet.

Nicht geklärt werden konnte das hartnäckige Gerücht, Großmann habe Teile der Leichen in Konserven an seinem Wurststand vorm Schlesischen Bahnhof verkauft.