Berlin. Viele DDR-Flüchtlinge kamen auf abenteuerlichem Weg in den Westen. Am kaltblütigsten waren die Bethke-Brüder mit ihren Mini-Flugzeugen.

Diese Aktion gilt als spektakulärste "Republikflucht" der deutsch-deutschen Geschichte: Am 25. Mai 1988 fliegen die beiden Brüder Ingo und Holger Bethke in zwei Ultraleichtflugzeugen von West-Berlin aus zum Treptower Park im Ostteil der Hauptstadt. Dort steigt ihr Bruder Egbert zu.

Gemeinsam fliegen sie zurück in den Westen und landen vor dem Reichstag. Die Flucht aus der DDR zählt mit Sicherheit zu den interessantesten True-Crime-Fällen Berlins.

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Mauerzeiten: Im Osten waren sie Schwerkriminelle, haben lange Jahre im Gefängnis gesteckt, wenn man sie schnappte. Im Westen wurden die „Republikflüchtlinge“ begrüßt. Lief es spektakulär ab, waren sie Helden. Und zu denen zählten sie gewiss, die drei Bethke-Brüder, die in der Nacht zum 26. Mai 1989 so kaltblütig wie niemand sonst die Mauer überwanden, gleich in beiden Richtungen, hin und her. Ein halbes Jahr, bevor sie sowieso verschwand. Unnötig mag das Ganze deshalb im Nachhinein gewesen sein. Doch der Aufwand, der wohl komplizierteste, der je für so etwas betrieben wurde, ging in die Geschichte ein.

Ingo, Egbert und Holger Bethke im Jahr 2014.
Ingo, Egbert und Holger Bethke im Jahr 2014. © picture alliance / Sven Simon | Malte Ossowski

Der 26. Mai war ein Freitag. Um 7.30 Uhr bemerkte eine West-Berliner Polizeistreife, dass auf der Wiese vor dem Reichstag zwei Leichtflugzeuge standen. Einfach so, in West-Berlin in jenen Tagen ein Sakrileg, die Siegermächte hatten jede Flugbewegung – außer ihren eigenen – streng verboten.

Was die Beamten bei ihrer Inspektion nicht ahnten: Ganz hinten, an der Entlastungsstraße, standen die drei Männer, die die Maschinen da in der Morgendämmerung abgestellt hatten, schauten zu, waren gerade vom „Aschinger am Zoo“ zurückgekehrt, wo sie erstmal ein paar Biere getrunken hatten. Jetzt wollten sie mal sehen, was so mit ihren Maschinen passiert. Sie hatten einiges hinter sich: Zwei Jahre intensives Ackern, Büffeln, Tricksen und Täuschen, Schrauben, Auslandsreisen, Unsummen West-Mark ausgeben, Fliegen und wieder Fliegen. Jetzt war es geschafft. Mittags riefen sie kurz bei der Polizei an, sagten, dass sie es waren. Sie kämen dann morgen vorbei und würden die ganze Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die hier nur im Stakkato zu erzählen ist.

Flucht der Bethke-Brüder: Die Eltern waren hochrangige Militärs

Drei Brüder aus Ost-Berlin. Ingo Bethke war 1975 auf der Luftmatratze über die Elbe geflohen. Holger brachte sich Armbrustschießen bei und jagte 1983 vom Dachboden eines Hauses in Treptow eine Schnur nach Neukölln, wo Ingo wartete. Sie spannten ein Drahtseil, auf dem Holger in selbstgebauter Seilbahn in den Westen hinab rollte. Jetzt fehlte noch der dritte Bruder, Egbert.

Alle drei hatten sie da bereits mit ihren Eltern gebrochen, die im Innenministerium hohe Posten hatten, der Vater Major, die Mutter Oberstleutnant. Nach der Flucht der zwei Söhne wurden beide degradiert und bebten vor Zorn – auf ihre Kinder. Als ihnen allerdings Holger und Ingo aus dem Westen per Genex-Geschenkdienst einen Lada schenkten, nahmen sie ihn dennoch an. Mehr gern als dankend. Egal. Aber was sollte nun mit Egbert geschehen, dem Zurückgebliebenen?

Ingo und Holger, die in Köln lebten und dort die Szene-Kneipe „Al Capone“ betrieben, sahen eines Tages im Jahr 1987 im „Playboy“ einen Minihubschrauber. Da war er, der Geistesblitz: Holger mit so einem Flieger, einem Zweisitzer, über die Mauer holen. Der Plan: im Westen starten, im Osten einschweben, Egbert steigt ein, und sofort wieder abheben. Von Anfang an war klar: Sie würden beide starten, in zwei Flugzeugen. Sicher ist sicher.

Mit dem „Playboy“-Hubschrauber über die Grenze – eine völlig abwegige Idee

Der Gedanke biss sich regelrecht fest in ihren Hirnen. Dabei war er von vornherein nur allzu abwegig. Eine Schnapsidee. Keiner von ihnen konnte fliegen. Und dann: Die bestbewachte und ausgeleuchtete Demarkationslinie, lauernde Grenzer mit MPs im Anschlag im offenen, langsamen Flieger überwinden? Zuvor die Flugzeuge im Transit nach Berlin schmuggeln, gegen alle Bestimmungen auch der West-Alliierten? Die Startvorbereitungen – wo eigentlich? Und: Wer sollte all das bezahlen? Doch die Idee bekam ihr Eigenleben, unumkehrbar.

Der Hubschrauber aus dem „Playboy“ fiel aus, es gab ihn gar nicht. Also: Ultraleichtflugzeuge mussten her. Sie besuchten Flugzeugmessen, berechneten Nutzlast und Startstrecke. 50 Meter, mehr durften es nicht sein. Sie kauften zwei Flugzeuge, Typ „Ikarus“, offenbarten sich den Herstellern, bekamen Rabatt. Trotzdem mussten sie nun ihre Kneipe verkaufen, sie gingen aufs Ganze.

Das Abenteuer kannte dann keine Grenzen mehr, als beide Brüder sich zur Flugschule anmeldeten, den Unterricht aber sofort abbrachen, nachdem es jeder einmal geschafft hatte abzuheben. Für mehr Stunden hatten sie kein Geld. Sie nahmen die Maschinen auseinander, fuhren mit PKW-Anhänger nach Belgien, wo man beim Freizeitfliegen nicht so pingelig war, um dort auf eigene Faust weiter zu üben, brachen auf dem Acker die Achsen, insgesamt fünf Mal, bastelten sich selbst neue, reparierten, starteten aufs Neue, schmierten ab, überschlugen sich, weil sie Seilzüge falsch montiert hatten, beinahe Totalschaden. Sie reparierten, starteten, landeten, demontierten wieder, fuhren heim. Dann wieder nach Belgien, und so weiter.

Im Treptower Park sollte der Landeplatz sein

1988 begannen die unmittelbaren Vorbereitungen. Ein befreundeter Kurier fuhr zu Egbert nach Ost-Berlin, hielt ihn auf dem Laufenden, übermittelte Codewörter für die Ost-West-Telefonate der Brüder. Auch schmuggelte er ein Funkgerät hinüber für die grenzüberschreitende Kommunikation, wenn es ernst würde, in der Nacht der Nächte. Einer der beiden Piloten musste trotzdem selbst nach Ost-Berlin, die anvisierte Lande- und Startbahn mit eigenen Augen inspizieren. Nur: Nach beiden wurde dort gefahndet, wegen ihrer Republikflucht und ihrer exponierten Eltern.

Die Bethke-Brüder wollten im Treptower Park landen, unweit des Sowjetischen Ehrenmals.
Die Bethke-Brüder wollten im Treptower Park landen, unweit des Sowjetischen Ehrenmals. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Britta Pedersen

Die Lösung: Ein Holger ähnlich aussehender West-Berliner Bekannter „verlor“ seinen Ausweis, beantragte den Ersatz mit Holgers Foto, mit dem der dann in den Osten einreiste – ständig in Angst, irgendein alter Freund würde ihn zufällig erkennen. Für Sentimentalitäten beim Wiedersehen mit Egbert nach 13 Jahren war keine Zeit. Sie fuhren in den Treptower Park. Dort sollte alles über die Bühne gehen, grenznah, mit einigermaßen großen Wiesen, ohne Bäume und Freileitungen. Noch ein zweites Mal wagte sich Holger unerkannt rüber, nachdem er sich mit Ingo auf einen genauen Landeplatz geeinigt hatte. Nun war alles klar.

Plötzlich stand ein Zirkuszelt im Weg

Ein Freund schmuggelte die Leichtflugzeuge in einem LKW über die Transitautobahn nach West-Berlin, Ingo und Holger kamen per Düsenflugzeug nach. Am 11. Mai in den ersten Morgenstunden wollten beide starten, in der Hasenheide, ebenfalls nicht weit von der Mauer, im West-Bezirk Kreuzberg. An Egbert hatten sie den Code durchgegeben, „Ulrike ist gesund“, er wartete im Treptower Park, in einem Busch. Doch als sie in der Hasenheide die Flugzeuge montiert hatten, stand plötzlich Polizei vor ihnen. Ihre Ausrede: Sie seien auf dem Weg nach Polen zu einem Flugwettbewerb, unterwegs bei Magdeburg hätten die Maschinen beim Bremsen Schaden genommen, und sie müssten sie jetzt hier reparieren, mitten in dunkler Nacht, in Kreuzberg. Damit war nicht nur der sofortige Start abgeblasen, am nächsten Tag stand auch groß in den West-Berliner Zeitungen: „Flugzeuge in der Hasenheide“, mit Bildern. Ob die Stasi in Ost-Berlin mitlas? Nur nicht dran denken.

Zwei Wochen später, am 25. Mai, dann der nächste Versuch. Dieses Mal auf abgesperrtem Gelände auf dem Sportplatz Britzer Mühle, wo sie nur das Schloss am Zaun knacken mussten, hinter sich wieder abschließen, alles zusammenschrauben, starten und Kurs auf Treptower Park nehmen mussten. Unter die Flügel hatten sie noch sowjetische Hoheitszeichen geklebt, um Grenzer, die sie womöglich von unten erspähten, davon abzuhalten, mit ihrer MP loszuschießen.

Das Unternehmen nahm seinen Lauf. Eine knappe Viertelstunde dauerte alles: Rüberfliegen nach Treptow, Absprache mit Egbert per Walkie-Talkie (Codenamen: „Ödeldödel“, „Adler1“, „Adler2“), Holger blieb mit seiner Maschine in der Luft, kreiste über dem Park, entsetzt mussten sie feststellen, dass sich auf ihrer Piste ein Zirkuszelt breitgemacht hatte, doch Ingo landete, blieb bei laufendem Motor eine knappe Minute unten, nahm Egbert auf, gab sofort wieder Gas. Und beide Maschinen flogen in Formation und gemächlichem Tempo, zur besseren Orientierung exakt über der grell beleuchteten Mauer und der Spree bis zum Reichstag. Wo sie nach Westen drehten und auf der Wiese landeten. Egbert küsste den Boden.

Polizeibeamte inspizieren am 26.5.1989 eines der Ultraleicht-Flugzeuge, die in den frühen Morgenstunden vor dem Berliner Reichstagsgebäude herrenlos herumstehen.
Polizeibeamte inspizieren am 26.5.1989 eines der Ultraleicht-Flugzeuge, die in den frühen Morgenstunden vor dem Berliner Reichstagsgebäude herrenlos herumstehen. © picture-alliance / dpa | DB

Nachlese: Ingo und Holger waren pleite, tief verschuldet. Die Brüder hatten alles mit einer Videokamera festgehalten, verkauften ihre Geschichte anschließend exklusiv an die „Quick“, nach eigenen Angaben für einen fünfstelligen Betrag. Die „taz“ vermutete einen sechsstelligen – und nahm übel: „Wie schaffe ich es, eine Flucht meistbietend zu vermarkten?“ Eines der beiden Flugzeuge hängt heute im Museum am Checkpoint Charlie, das andere im Haus der Geschichte in Bonn.