Paartherapeut Michael Mary hilft, Gründe für einen Seitensprung zu erkennen

Er ist einer der bekanntesten Paarberater und Autor von Beziehungsratgebern wie „Liebe will riskiert werden“: Michael Mary. Mit uns sprach er über den Seitensprung, das Begehren der Frauen und die Frage, ob Monogamie ein Auslaufmodell ist.

Herr Mary, welche Rolle spielt der Seitensprung in Ihrer Praxis?

Michael Mary: Das Problem taucht oft auf. Bei jedem vierten bis fünften Paar ist es der Auslöser dafür, dass es zu mir kommt. Bei vielen ist der Seitensprung nur zufällig herausgekommen. Der eine hat sein Email-Fach nicht geschlossen. Und dann ist das Problem plötzlich auf dem Tisch. Der Fremdgänger gilt als der Schuldige, zumindest wird er so dargestellt. Er fühlt sich auch erstmal so. Dann reden die beiden darüber. Und sie stellen fest, dass sie die Distanz, die durch den Seitensprung entstanden ist, nicht mehr überwinden können. Und dann suchen sie sich Hilfe.

Trägt denn der Fremdgänger tatsächlich allein Schuld?

Nein, dazu gehören immer zwei. Und wenn einer keinen anderen Ausweg mehr sieht als fremdzugehen, muss sich auch der andere fragen, ob er diese Situation nicht mit hervorgerufen hat. Es geht ja gar nicht immer um sexuelle Unlust oder die fehlende Kommunikation darüber.

Sondern?

Oft geht es um Nähe, Akzeptanz oder Bestätigung. Und für viele ist der Seitensprung eine Gelegenheit, aus einer langjährigen Beziehung herauszukommen. Das ist gar nicht so einfach. Wenn man sich von jemandem trennt, dann trennt man sich ja nicht nur von dem Menschen, sondern auch von Träumen und Sehnsüchten.

Aber passiert so eine Seitensprung denn immer vorsätzlich?

Nein, aber oft entstehen daraus doch Affären, die länger dauern.

Gibt es Risikofaktoren für einen Seitensprung?

Zum Seitensprung kommt es, wenn mit dem Alltag auch die Probleme kommen – und man diese Probleme aussitzt. Die Hemmschwelle ist bei Paaren mit Kindern etwas höher, weil man nicht nur die Ehe gefährdet, sondern auch die Familie. Es gibt Studien, die davon ausgehen, dass jeder zweite Deutsche seinen Partner schon mal betrogen hat.

Ist der Seitensprung ein Massenphänomen?

Es gibt darüber keine verlässlichen Zahlen. Wenn man Menschen befragt, bekommt man ja nur eine Auskunft darüber, wie sich derjenige selbst sieht – und nicht, was er wirklich tut. Frauen geben eher an, sie seien treuer, weil sie meinen, das werde von ihnen erwartet.

Nach einer aktuellen Umfrage von Parship gehen Frauen inzwischen häufiger fremd als Männer. 38 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer gaben einen Seitensprung zu.

Das ist ja kaum ein Unterschied.

Aber vor Jahren hat man das Frauen noch gar nicht zugetraut.

Ich glaube, dass das Verhältnis relativ ausgeglichen ist. In Zeiten, da sich die Geschlechterrollen auflösen, sind Frauen genauso aktiv und begehrlich wie Männer.

Unterscheiden sich die Geschlechter in ihrem Fremdgehverhalten?

Man geht davon aus, dass Frauen eher auf Affären aus sind und Männer eher auf One-Night-Stands. Das ist wohl ein Klischee. Als dritten Weg gibt es ja auch noch die offene Beziehung. Dieser Weg wird manchmal von Paaren gewählt, die wegen der Kinder eine starke Bindung haben, denen aber die Leidenschaft abhanden gekommen ist.

Inzwischen helfen Agenturen und Online-Dating-Plattformen bei der Suche nach einem Partner für den Seitensprung. Ist die monogame Beziehung ein Auslaufmodell?

Wann war die jemals en vogue? Monogamie ist eine Forderung des patriarchalischen Gesellschaftssystems. Sie ist ursprünglich der Versuch, die Erbfolge zu kontrollieren. Das ist nichts Natürliches und auch wissenschaftlich widerlegt. Affenweibchen sind nicht monogam. Die gehen laufend fremd und sammeln dabei Gene ein.

Und der Homo sapiens?

Bei uns löst sich die Versorgungsehe auf, und damit auch die Abhängigkeit der Frau. Da ergibt Monogamie nicht mehr viel Sinn.

Das heißt, der Seitensprung liegt in der Natur des Menschen?

Das würde ich so nicht sagen. Aber Begehren lässt sich nicht kanalisieren. Die Vorstellung, treu sein zu müssen, führt bei einigen Paaren zur seriellen Monogamie. Wenn das Begehren nach vier Jahren nachlässt, sucht man sich den nächsten Partner.

Ist Prostitution eine Alternative?

Nein, das ist ein Geschäft: Sex gegen Geld. Das bleibt unpersönlich. Beim Seitensprung geht es auch um andere Bedürfnisse.

Was verrät es über die Gesellschaft, wenn sie die Vermittlung von Seitensprüngen zur Dienstleistung macht?

Es gibt ein starkes Bedürfnis nach sexueller Erregung und nach Begehren. So ein Seitensprung ist ja auch ein Grenzübertritt. Man verlässt die Realität, damit man sie wieder besser aushält.

Wo fängt der Seitensprung an?

Das muss jedes Paar für sich definieren. Es gibt Paare, die sagen: Flirten geht gar nicht. Bei anderen fängt die Untreue erst an, wenn es zu sexuellen Kontakten gekommen ist.

Was raten Sie Betroffenen: Soll man den Seitensprung beichten oder lieber verschweigen?

Sie können da nichts raten. Das ist viel zu gefährlich. Stellen Sie sich vor, jemand beichtet den Seitensprung und zerstört eine Beziehung. Und der Partner sagt Jahre später, die Zeit davor sei so toll gewesen. Hätte er davon nie etwas erfahren, wäre die Beziehung weiter gegangen.

Aber wie können Sie den Paaren helfen?

Ich kann beide Hälften nur ermutigen, sich klar zu entscheiden: Den Seitensprung entweder verheimlichen – oder ihn offen zu machen. Und dabei immer die Gefühle des anderen berücksichtigen. Wer sagt, er wolle seinem Partner nicht weh tun, der hat mehr seine eigene Befindlichkeit im Auge. Er hat Angst davor, verlassen zu werden.

Merkt der Partner es nicht so oder so?

Nein, viele bilden sich zwar ein, sie würden ihren Partner gut kennen. Aber wenn der geschickt ist, merkt keiner was.

Kann eine Beziehung nach der Beichte eines Seitensprungs noch funktionieren?

Das hängt davon ab, ob sich die Trennung schon längst angebahnt hat. In den meisten Fällen flammt der Sex erstmal wieder auf, wenn so ein Seitensprung herausgekommen ist. Aber danach tauchen bei dem einen wieder das schlechte Gewissen und bei dem anderen die Verletzung auf. Das lässt sich nicht so einfach wegstecken.

Es ist ja auch ein massiver Vertrauensbruch. Wie kann man jemanden lieben, dem man nicht mehr vertraut?

Was heißt denn Vertrauen?

Dass ich mir sicher sein kann, dass mein Partner mich so behandelt, wie er auch von mir behandelt werden möchte.

Vertrauen ist aber bedingungslos. Ein Vorschuss, den man verschenkt. Eine Beziehung lässt sich nach einem Seitensprung kitten, wenn man sich darauf verständigt, worauf man jetzt noch vertrauen kann. Zum Beispiel darauf, dass der Partner verspricht, dass er es in Zukunft gleich sagt, wenn er sich wieder in jemand anderen verliebt. Und dann geht das Spiel von vorne los.

Gehen Männer und Frauen mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein, anders um?

Im Prinzip nicht. Sie benutzen vielleicht andere Worte. Es ist für jeden eine Verletzung, die umso größer ist, je geringer das Selbstwertgefühl ist.

Psychologen sagen, das Geständnis eines Seitensprungs könne eine Beziehung sogar stärken. Stimmt das?

Das ist möglich, wenn es beiden Partnern gelingt, zu erkennen, was zu dem Seitensprung geführt hat. Wenn also der eine einsieht, dass der andere nur fremdgegangen ist, weil er sich einsam gefühlt und jemanden kennengelernt hat, der besser zugehört hat. Aber das hängt davon ab, welche Bedeutung die beiden einem Seitensprung zumessen.

Und wie oft kommt es vor, dass Paare in Ihrer Praxis wieder zueinander finden?

Ich würde sagen, die Chance steht 50:50. Aber meine Aufgabe ist es ja nicht, eine Trennung zu verhindern. Manchmal ist sie sogar die bessere Lösung.