Berlin. „Einfach Mozart“ heißt die innovative und vorzügliche Produktion des Kinderopernhauses Unter den Linden im Alten Orchesterprobensaal

Im Alten Orchesterprobensaal im Intendanzgebäude der Staatsoper Unter den Linden findet „Einfach Mozart“ statt. Es ist lediglich die in der repräsentativen Hochkultur Berlins sichtbare Spitze, das Endergebnis eines Prozesses, der in den Berliner Bezirken viel früher begonnen hat – in den Kinderopernhäusern der Bezirke Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Reinickendorf und Neukölln. Die Eigenart, dass die Staatsoper traditionell wie ein Raumschiff für zahlungskräftige Eliten und Touristen in Berlin-Mitte steht, ist so nicht aus der Welt zu schaffen – doch Noch-Intendant Matthias Schulz war diese ungewohnte Anbindung an die Stadt wichtig. Und er initiierte eine Zusammenarbeit der Staatsoper mit den Kinderopernhäusern, die zum Teil schon bei Schulz’ Amtsantritt 2018 bestanden. Federführend dabei ist bis heute die mittlerweile 73-jährige Regine Lux-Hahn, die in ihrem Berufsleben vor den Kinderopernhäusern Sozialmanagerin bei der Caritas war.

In Dezentralität laufen auch seit September letzten Jahres die Vorarbeiten für „Einfach Mozart“: Zunächst in Arbeitsgemeinschaften von benachbarten Schulen der Bezirke, dann in Kinderopernhaus-eigenen Workshops wurde das gesamte Stück von Kindern in Zusammenarbeit mit einem professionellen Team aus den Bereichen Regie, Dramaturgie, Musik und Gesang konzipiert, geschrieben und erarbeitet.

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Es geht um Wolfgang und Nannerl Mozart: die beiden Kinder, die ab dem Jahr 1762 mit ihrem Vater Leopold in Postkutschen quer durch Europa reisten, um an Fürstenhöfen von London über Paris bis Neapel ihr enormes musikalisches Können zu zeigen. Diese Art von Kindheit ist mit jener von der 27 Berliner Schülerinnen und Schülern, die in der Staatsoper als „Mozart-Bande“ das musikalische Geschwister-Paar verkörpern, nicht vergleichbar, und unter anderem diese Diskrepanz macht den Drive der Aufführung aus.

„Einfach Mozart“ ist ein Stück für Kinder, aber auch für Erwachsene

Regisseur Georg Schütky und Co-Regisseurin Adrienn Bazsó gelingt eine interessante Balance, denn „Einfach Mozart“ ist zwar gemeinsam mit Kindern gemacht und erarbeitet, aber es ist nicht zwingend ein Kinderstück. Kinder und Erwachsene müssen hier gleichermaßen ihren Begriff einer konsistent erzählten Geschichte hinterfragen. Es gibt kaum Personen, an denen man sich orientieren kann. Höchstens der Tenor Johan Krogius kann mit seiner Lakaientracht und seiner Perücke durchgängig als Vater Leopold Mozart identifiziert werden.

Bei „Einfach Mozart“ kann Tenor Johan Krogius mit seiner Lakaientracht und Perücke durchgängig als Vater Leopold identifiziert werden.
Bei „Einfach Mozart“ kann Tenor Johan Krogius mit seiner Lakaientracht und Perücke durchgängig als Vater Leopold identifiziert werden. © Jakob Tillmann | Jakob Tillmann

Zu Beginn stellt die „Mozart-Bande“ der Kinderopernhäuser selbst die Kutsche dar, die irgendwo zwischen Salzburg und Gent im Schlamm stecken bleibt, weil ein Wagenrad den Geist aufgegeben hat. Vater Leopold regt sich indes über die Arroganz des letzten besuchten Fürsten auf – der Text wurde offenbar mitunter anhand der zahl- und informationsreichen Mozart-Briefe zusammengestellt.

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Von fünf Mädchen aus dem Ensemble wird thematisiert, wie Nannerl und Mädchen überhaupt im späten 18. Jahrhundert zurückgestellt wurden. Bekanntlich durfte die fünf Jahre ältere Mozart-Schwester nach Erreichen der Volljährigkeit nicht mehr an den Reisen teilnehmen. Nur scheinbar zufällig fällt danach ein Schlaglicht auf eine weibliche Influencerin der Mozart-Zeit: die Ludwig-Mätresse Madame Pompadour. In ihrer Gestalt darf die Mezzosopranistin Rebecka Wallroth eine Arie aus „La finta semplice“ singen – die geniale erste Oper des 12-jährigen Mozart, deren Musik das Material des 50-minütigen Abends darstellt.

Die Mozarts sitzen im Publikum beim Besuch der imaginären Londoner Oper

Bei der Überfahrt über den Ärmelkanal dreht sich das Publikum zu dem von Christina Schmitt konstruierten Schiff auf der Rückseite des Raums um. Hier macht sich Max Renne, der Arrangeur und musikalische Leiter des Abends bemerkbar, indem er das Wolferl seine musikalische Inspiration am Schiffsmast ausleben und ihn den „Pink Panther“ zupfen lässt. Dann geht es musikalisch in elitärere Gefilde, und von neuem wendet sich die Perspektive, nun mehr die der Mozarts selbst: Sie dürfen die imaginäre Londoner Oper besuchen und dafür im Publikum des kleinen Staatsopern-Raums Platz nehmen.

Da jener Raum immer der gleiche bleibt und die Mittel zum Bühnenzauber begrenzt sind, werden die schnellen Schnitte von Szene zu Szene auch durch die wechselnde Musik verdeutlicht. Die wiederum ist von hoher Qualität. Ein 16-köpfiges Ensemble der Staatskapelle spielt im Hintergrund unter Leitung von Max Renne, im Vordergrund wuseln nicht nur in immer neuen Formationen die Mitglieder des Kinderopernhauses. Die (erwachsenen) Mitglieder des Internationalen Opernstudios der Staatsoper stellen mit immer neuer Stimmpracht Figuren dar, die aus der Perspektive der reisenden Kinder wichtig sind: Sopranistin Maria Kokareva als Köchin und Kutscherin, Bass Dionysios Avgerinos als Impresario sowie Tenor Gonzalo Quinchahual als Sänger der Londoner Oper singen großartig – ein eindrucksvolles stimmliches Erlebnis für Kinder, ob auf der Bühne oder im Publikum.

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Diese Kombination aus innovativer Erzählweise, musikalischen Spitzenleistungen und letztlich einem kreativen Erlebnis für Kinder – sie ist der Spirit, der diese Aufführung trägt. Musikunterricht an Schulen, selbst an Musikschulen, steht demgegenüber bundesweit zunehmend zur Disposition. Es ist inständig zu hoffen, dass die Anbindung der Kinderopernhäuser an die Staatsoper Unter den Linden auch nach dem Wechsel von Intendant Matthias Schulz nach Zürich in der übernächsten Spielzeit erhalten bleibt – oder besser: ausgebaut wird. Es geht hier nicht um den Fortbestand von Oper, es geht um soziale Teilhabe an Kunst.