Soziologe Friedrich Schorb über die Benachteiligung dicker Menschen und Kinder als Mobbing-Opfer

Ob jemand dick, übergewichtig oder adipös ist, hängt von der Definition ab, sagt der Bremer Soziologe Friedrich Schorb. In seinem Buch „Dick, doof und arm: Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert“ warnt er davor, dass Dicke mehr unter ihrer Stigmatisierung als unter den Folgen ihres Übergewichts leiden.

Herr Schorb, sind Sie dick?

Friedrich Schorb: Kommt darauf an, wen man fragt. Von den meisten Menschen werde ich nicht als dick wahrgenommen. Aber wenn es nach der WHO geht, dann bin ich mit einem Body Mass Index von über 25 zumindest übergewichtig.

Sie haben sich einen Namen als „Anwalt der Dicken“ erworben. Was interessiert Sie als Soziologe am Thema Übergewicht?

Persönlich betroffen fühle ich mich nicht. Auf die Idee gebracht hat mich das Buch „Die Dickmacher“ von Renate Künast. Das hat die Botschaft verbreitet, dass die Sozialsysteme zusammenbrechen, wenn wir nicht ganz schnell was gegen Übergewicht unternehmen. Dieser Alarmismus hat mich ebenso geärgert wie die stereotype Darstellung von dicken Kindern, die angeblich den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen und bergeweise Süßigkeiten in sich hineinstopfen. Ich habe mich näher mit dem Thema beschäftigt und festgestellt, dass viele Zahlen und Beispiele einfach aus den USA übernommen wurden. Dabei gab es schon damals eine Diskussion darüber, ob die Folgen von Übergewicht nicht auch übertrieben werden und ob die Stigmatisierung nicht schlimmer für Dicke ist als die gesundheitlichen Probleme, die damit verbunden sind.

In welchen Bereichen werden Dicke denn stigmatisiert?

In allen gesellschaftlichen Bereichen. Es gibt Studien in Deutschland, die nachweisen, dass Dicke im Arbeitsleben zum Beispiel bei Einstellungen benachteiligt werden. Wenn man Personalchefs Bilder von fiktiven Bewerbern vorlegt, schätzen Sie die Eignung der dicken Kandidaten für den Job viel schlechter ein, auch wenn sie über alle nötigen Qualifikationen verfügen. Man unterstellt ihnen, sie hätten sich nicht im Griff und könnten sich beim Essen nicht zurückhalten. Man denkt, dass sie deswegen auch von Kunden nicht ernstgenommen werden.

Aber Fakt ist doch, dass in Deutschland zwei Drittel der Männer und über die Hälfte der Frauen zu dick sind – was das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko erheblich erhöht.

Man muss sehr sorgfältig unterscheiden zwischen Übergewicht und Adipositas. Übergewicht beginnt ab einem BMI von 25. Und in dieser Klasse gibt es kein höheres Gesundheitsrisiko. Bei der Adipositas hängt es vom Grad der Ausprägung ab. Viele dicke Menschen trauen sich aber gar nicht erst zum Arzt, weil sie sich stigmatisiert fühlen. Wer will sich schon anhören, er solle erst mal 20 Kilo abnehmen, bevor er überhaupt untersucht wird. Das funktioniert ja auch nicht.

Wer bestimmt denn überhaupt, ab wann jemand dick ist?

Die offiziellen Grenzwerte werden durch die Weltgesundheitsorganisation WHO festgelegt. Seit Ende der 1990er-Jahre gelten sehr restriktive Grenzwerte, denen zufolge in fast allen Industrieländern die Bevölkerungsmehrheit als zu dick gilt. Nach der Einführung der neuen Grenzwerte wurden in den USA mehr als 35 Millionen bis dahin normalgewichtige US-Amerikaner über Nacht per Definition „übergewichtig“.

Für Kinder ist der BMI keine verlässliche Größe, weil sie noch wachsen. Wie wird ihr Übergewicht gemessen?

Man arbeitet mit einer statistischen Hilfskonstruktion. Man nimmt die zehn Prozent der dicksten Kinder und markiert hier die Grenze zum Übergewicht. Dann macht man einen Strich bei den oberen drei Prozent und sagt: Ab hier beginnt die Adipositas. Diese Grenze legt aber jedes Land anders fest. Deshalb kann man die Prozentzahlen aus den verschiedenen Ländern auch nicht miteinander vergleichen.

Trotzdem kursieren verschiedene Zahlen zu der Frage, wie hoch der Anteil der dicken Kinder ist. Das Robert-Koch-Institut beziffert ihn auf 15 Prozent. Die Bundesregierung ging zuletzt davon aus, dass jedes 5. Kind und jeder dritte Jugendliche übergewichtig sei. Wer hat recht?

Das hängt davon ab, auf welche Bezugsgröße sich die Zahlen beziehen. Die Bundesregierung beruft sich auf Referenzwerte, die seit den 1950er-Jahren erfasst wurden. Damals waren die Kinder natürlich sehr viel schlanker. Wenn man diese Zahlen als Grundlage nimmt, fällt der Anstieg höher aus. Das Robert-Koch-Institut beruft sich auf neuere Grenzwerte aus den 1980er-Jahren. Und die legen den Schluss nahe, dass sich die Quote stabilisiert hat. Darauf deuten auch die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen hin. Die zeigen, dass die Quote in vielen Bundesländern sogar leicht rückläufig ist ...

... und die Probleme erst nach der Einschulung anfangen. Woran liegt das?

Ich glaube, es liegt an der mangelnden Bewegung. Sobald Kinder eingeschult werden, müssen sie viel öfter sitzen.

Warum häufen sich seit zehn Jahren Berichte in den Medien, die das Problem dramatisieren?

Ich glaube, es liegt daran, dass die Leitlinien für Adipositas von Wissenschaftlern erstellt werden, die von der Pharma-Industrie oder Unternehmen wie Weight Watchers finanziert werden. Die haben Interesse, das Problem zu dramatisieren, um den Absatz von Medikamenten oder Diäten anzukurbeln. Das ist auch eine Masche, um sich Aufmerksamkeit für andere Themen zu verschaffen, die auf den ersten Blick gar nichts mit einem hohen Körpergewicht zu tun haben.

Und da müssen Dicke als Sündenbock herhalten?

Ja, Dicksein passt gut als Stigma zu unserer Leistungsgesellschaft. Dicken Menschen kann man unterstellen, sie seien selber schuld an ihrem Übergewicht. Keiner werde ja dick geboren. Das ist natürlich völliger Unsinn. Es gibt ein ganz komplexes Wechselspiel von Genetik und Lebenswandel, und die Genetik hat einen erheblichen Anteil.

Bedeutet Dicksein für Kinder und Jugendliche etwas anderes als für Erwachsene?

Ja, ich glaube, dass es für sie noch schwerer ist, ein positives Selbstbild zu entwickeln. Erwachsene können sich eher Freiräume schaffen, wo sie dem Druck nicht so ausgesetzt sind. Bei Kindern ist das Mobbing direkter.

Nach einer Studie des Robert-Koch-Institutes leiden Kinder stärker unter ihrem gefühlten Gewicht als unter ihrem tatsächlichen. Was sagt das über das Körperbild unserer Gesellschaft?

Es gibt diese Sehnsucht nach einem Perfektionismus, den keiner erfüllen kann. Das Erschreckende ist, dass das jetzt schon bei Kindern anfängt. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Mädchen und Jungs immer früher mit Diäten beginnen – teilweise noch vor der Pubertät.

Woher rührt der Irrglaube, dass man sich besser fühlt und beliebter ist, wenn man dünn genug ist, um sich für die Castingshow „Germany‘s Next Top Model“ zu qualifizieren?

Warum Irrglaube? Man hat doch Vorteile, wenn man schlanker ist. Man passt in coolere Klamotten und kann sich ernähren, wie man will. Man wird nicht komisch angeschaut, wenn man sich lieber ein Steak als einen Salat bestellt. Man wird eher als kompetent eingeschätzt. Man bekommt leichter einen Job, findet leichter einen Partner oder ein WG-Zimmer. Dabei ist es ja nicht so, dass man als schlanker Mensch gar keine Probleme hätte. Das haben Untersuchungen bei Menschen gezeigt, die sich einer Magenverkleinerung unterzogen haben. Viele haben nach der OP massive psychische Probleme bekommen. Entweder sie kamen sich fremd vor in ihrem neuen Körper. Oder sie haben gemerkt, dass ihre Probleme nach der Gewichtsabnahme gar nicht weniger wurden. Für viele ist das ein Schock.

Von ähnlichen Erfahrungen berichtet die Australierin Taryn Brumfitt in ihrem Dokumentarfilm „Embrace“. Sie trainierte nach ihrer dritten Schwangerschaft so exzessiv, dass sie bei Bodybuilder-Wettbewerben teilnehmen konnte, fühlte sich aber auch in diesem neuen Körper fremd. Hängt es eher vom Selbstbewusstsein ab, ob man sich in seinem Körper wohlfühlt?

Ja, natürlich. Nur sollte man es dann nicht den Betroffenen überlassen zu sagen: Dann akzeptiere dich doch so, wie du bist. Das ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe, die Akzeptanz von unterschiedlichen Körperformen zu fördern.

Kann die von Brumfitt gegründete Bewegung Body Image Movement einen Beitrag leisten?

Ja, ich habe den Eindruck, dass das ein Schritt in die richtige Richtung ist. In den sozialen Netzwerken tauchen immer häufiger Körper auf, die nicht der Norm entsprechen. Auch Plus-Size-Models sieht man jetzt öfter. Man muss allerdings aufpassen, dass das nicht in eine andere Richtung abdriftet und man plötzlich anfängt, sehr dünne Menschen zu diskriminieren.