Beim Geschwisterzoff können sich Eltern nur schwer heraushalten. Schnell sind sie mittendrin. Mit einem anklagenden “Mama, die hat...“, “Papa, der hat....“ fordern Kinder eine Stellungnahme ein.

Was hinter dem Geschwisterstreit steckt, wie sich Mütter und Väter am besten verhalten und wie man Zickenkrieg und Handgreiflichkeiten vorbeugen kann, erklärt die Berliner Pädagogin Bettina Schade im Gespräch mit Beatrix Fricke. Bettina Schade arbeitet als Elterntrainerin und hat selbst drei Kinder.

Berliner Morgenpost: Geschwisterstreit kann sich an den kleinsten Dingen entzünden, zum Beispiel, wer die größere Kartoffel auf seinem Teller hat. Geht es den Kindern überhaupt um die Sache?

Bettina Schade: Wer streitet, grenzt sich voneinander ab, macht die eigene Position klar und fordert, dass seine Bedürfnisse befriedigt werden. Kinder haben also ihre guten Gründe, wenn sie miteinander streiten. In der Tat liegen die Motive allerdings oftmals tiefer. Fragen wie: Wer hat hier das Sagen, wem schenkt Papa mehr Zeit, hat Mama mich genauso lieb wie den Bruder - die beschäftigen Kinder und äußern sich häufig im Zoff miteinander. Viele Streitereien sind eine Forderung nach mehr Aufmerksamkeit.

Berliner Morgenpost: Streiten Geschwister anders als Freunde untereinander?

Bettina Schade: Ich würde schon sagen, dass Geschwister vielfach heftiger miteinander streiten, weil ihre Beziehung intensiver ist und, anders als bei Freunden, nicht immer aufs Neue erarbeitet werden muss. Das gibt Sicherheit. Da können die Kinder negative und aggressive Gefühle ungefiltert rauslassen.

Berliner Morgenpost: Gibt es Entwicklungsphasen, in denen die Lust am Streiten quasi zum Programm gehört?

Bettina Schade: In der Trotzphase kommt es häufig zu Auseinandersetzungen, weil Kleinkinder in dieser Zeit ihren eigenen Willen entwickeln und ihn erfüllt bekommen möchten. Es ist aber nicht so, dass die Kinder bewusst einen Streit vom Zaun brechen wollen. Oft streiten auch pubertierende Kinder viel mit jüngeren Geschwistern. Da geht es um das Thema Abgrenzung, Freiräume schaffen. Grundsätzlich kommt es bei Geschwistern, die einen geringen Altersunterschied und das gleiche Geschlecht haben, besonders häufig zu Streit. Diese Kinder haben im Positiven eine enge Beziehung und viele Gemeinsamkeiten, aber es gibt eben auch viel Konkurrenz, Rivalität und Machtkämpfe zwischen ihnen.

Berliner Morgenpost: Wie lange sollten sich Eltern aus einem Streit heraushalten?

Bettina Schade: Am besten so lange wie möglich - auch wenn es schwerfällt. Dann spüren die Kinder, dass sie einen Streit nicht dazu nutzen können, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eltern sollten ihre Kinder ermutigen, selbst eine Lösung zu finden, und dabei Hilfestellung anbieten. Ganz entscheidend ist, dass jede Konfliktpartei ihre Meinung und ihre Gefühle äußern darf - und sich in ihrem Ärger und ihrer Wut von Mutter und Vater ernst genommen fühlt. Das ist die Grundlage dafür, dass sich ein Kind wieder beruhigen kann und ein konstruktives Gespräch überhaupt möglich wird.

Berliner Morgenpost: Sollte man aber nicht spätestens eingreifen, wenn ein Kind weint?

Bettina Schade: Da muss man vorsichtig sein, denn Kinder können das Weinen oder Schreien ja auch gezielt einsetzen. Ich würde dann eingreifen, wenn es zu echten Handgreiflichkeiten mit Verletzungsgefahr kommt.

Berliner Morgenpost: Ab welchem Alter ist es Kindern überhaupt möglich, eigenständig Konflikte zu lösen?

Bettina Schade: Man kann schon mit Kita-Kindern trainieren, Gefühle und Bedürfnisse zu äußern und kleine Konflikte zu bewältigen. Man muss die Kinder ja nicht mit dem Streit allein lassen, aber man sollte auch nicht zu viel Verantwortung übernehmen. Ein strukturiertes Konfliktlösungsgespräch können Erwachsene bereits mit Kindern im Vorschulalter führen. Ab dem Grundschulalter ist es eine gute Sache, einen wöchentlichen Familienrat einzuführen.

Berliner Morgenpost: Was ist das?

Bettina Schade: Bei einer solchen Zusammenkunft der ganzen Familie können kritische Themen diskutiert werden, bei denen es immer wieder zu Zoff kommt, zum Beispiel die Nutzung des gemeinsamen Computers. Je stärker Kinder an der Konfliktlösung beteiligt werden, je mehr sie Absprachen und Regeln mit erarbeiten, desto eher halten sie sich später übrigens auch daran.

Berliner Morgenpost: Ist es sinnvoll, bei einem Streit den "Übeltäter" zu bestrafen?

Bettina Schade: In den meisten Fällen ist es für Eltern schwer nachvollziehbar, wie sich der Streit entwickelt hat. Wenn sie versuchen, den Provokateur zu finden und zu bestrafen, laufen sie Gefahr, dass sich ein Kind ungerecht behandelt fühlt. Damit setzen sie einen Rachekreislauf in Gang: Bei nächster Gelegenheit wird das bestrafte Kind sein Gefühl der Kränkung an der Schwester oder am Bruder auslassen. Ich würde den Kindern daher lieber vermitteln, dass ihr Verhalten Folgen hat. Ein Beispiel: Wenn sich zwei Brüder um den Gameboy streiten und einfach nicht einigen können, würde ich das Gerät beiden für den Rest des Tages wegnehmen und sagen: Morgen bekommt ihr wieder eine Chance.

Berliner Morgenpost: Wie kann man Streit vorbeugen, sollte man es überhaupt tun? Vielleicht indem jedes Kind gleich seinen eigenen Gameboy bekommt?

Bettina Schade: Ich würde Auseinandersetzungen nicht unterdrücken. Die Kinder erwerben sich durch das Streiten wichtige Kompetenzen für ihr Leben. Eltern haben aber die Aufgabe, in der Familie eine Atmosphäre zu schaffen, in der nicht mehr Streit herrscht als nötig. Dafür ist es nicht unbedingt sinnvoll, den Kindern das Gleiche zu geben.

Berliner Morgenpost: Sondern?

Bettina Schade: Bedürfnisse sind individuell. Wenn man sie erfüllt, wird sich das Kind so geliebt und wichtig fühlen, dass es nicht ständig nötig hat, Aufmerksamkeit zu erkämpfen. Man kann sich das so vorstellen: Jedes Kind hat eine Art Liebesakku in sich, der regelmäßig aufgeladen werden sollte - am besten mit "Extra-Zeiten". Da können die Eltern mit dem Kind in die Eisdiele gehen, gemeinsam Kuchen backen oder mit ihm sein Lieblingsspiel spielen. Wichtig ist, dass das Kind erfährt: Jetzt stehe ich im Mittelpunkt und habe die volle Aufmerksamkeit. Das ist auch die beste Methode, um Geschwisterstreit vorzubeugen.

Berliner Morgenpost: Können auch gemeinsame Unternehmungen der ganzen Familie Rivalitäten mildern helfen?

Bettina Schade: Ja, es ist ganz wichtig, dass die Kinder ein Wir-Gefühl entwickeln, das Gefühl von Zusammengehörigkeit - und Teamgeist.