Berlin. Kolumnist Dieter Puhl über eine besondere Lebensgemeinschaft, in der trainiert wurde, den Weg ins Leben zurückzufinden.

15 Menschen hatten Hunger, nur war das Geld recht knapp. Die Wohnung hatte nur ein Zimmer und eine kleine Küche, die Außentoilette war abenteuerlich, selbstredend gab es nur Ofenheizung. Chamissoplatz 6 in Kreuzberg, oder auch „Kreuzberg 61“, wie damals alle sagten, gemeint war die alte Berliner Postleitzahl. Hinterhof, Quergebäude, 1 Etage, links. Wir schrieben 1985, ich machte ein Praktikum bei der Berliner Stadtmission. „Wohlraum zum Leben“ war der Name des Projektes. 36 kleine, einfache Wohnungen, verteilt über Kreuzberg und Neukölln, 16 am Chamissoplatz. Alle auf Hinterhöfen.

Es war ein Projekt für ehemals obdachlose Menschen. Eine Lebensgemeinschaft, in der trainiert wurde, den Weg ins Leben zurückzufinden. Einige Menschen lebten Monate hier, andere seit zehn Jahre. Für sie war es Heimat.

Freitags wurde gemeinsam gekocht, denn das konnten viele vorher nicht. Niemand hatte es ihnen beigebracht. Gemeinschaft wurde so gefördert, ist es doch nicht gut, dass der Mensch allein ist. Die meisten hatten weder Familien, Kinder, Ehemänner noch Frauen, kaum jemand Freunde. Jedenfalls nicht mehr. Wirst du obdachlos, verlierst du nicht nur deine Wohnung. Es bleibt dann lediglich eine Plastiktüte mit einer Unterhose zum Wechseln, vielleicht, und vermutlich einer Flasche Weinbrand. „Ich fange neu an“, murmelten alle stoisch jeden Tag, fast im Chor.

Hier wurde geredet, gestritten, gebetet und gelesen

Weil die Menschen nichts hatten, waren auch alle Wohnungen möbliert. Lediglich ein Fernseher fehlte. Das war bei die erste Anschaffung nach Einzug. Keine Dusche zu haben, das nervte übrigens irgendwann und eine Außentoilette im Winter bei minus 25 Grad hatte zuweilen etwas von einemÜberlebenstraining. Kerzen neben den Wasserleitungen, um das Einfrieren zu vermeiden, sie erinnern sich auch noch?

„Kulturraum“: Hier wurde geredet, gestritten, gebetet und gelesen. Sich begegnet. Obdachlose in einer Literaturgruppe, ich lernte einige Vorurteile zu korrigieren. Shakespeare, Böll, Reiseberichte, die gesamte Welt, Herr Walther sprach sogar Japanisch, viele waren deutlich fitter als ich. Andere konnten dagegen die einfachsten Dinge nicht.

Die Kochgruppe am Freitag leitete übrigens Sozialarbeiter Jens Bodo Fried, ein war ein sehr erfahrener Sozialpädagoge, warmherzig und humorvoll, ruhig, ein eher introvertierter Mensch. Ich lernte viel von ihm. Das Kochen gehörte aber nicht dazu. Weil es billig war, gab es an einem Tag viele Kartoffeln, etwas Spinat und immerhin 20 Rühreier. Sauber hatte Bodo das Eiweiß und das Gelb voneinander getrennt, hatte aber für das Eiweiß keine Verwendung, weswegen es entsorgt wurde. Nur um sich später zu wundern: viel war das nicht mehr, was von den Eiern blieb. Und richtig satt wurde niemand.

Japaner kamen auf den Hof, um Berliner Ureinwohner zu besichtigen

Ich erinnere mich gerne an dieses Praktikum, an die Gemeinschaft der Menschen. Die Älteren von ihnen können sich vielleicht noch an die Galerie im Vorderhaus erinnern, tolle Ausstellungen, sehr politisch immer, und Kevin Coyne trat sogar einmal dort auf. Kennen sie noch die „Angefahrenen Schulkinder“,die eine Rock- und Kabarettgruppe, bei den Jahresfesten auf dem Chamissoplatz?

Heute nicht mehr vorstellbar, damals aber kamen regelmäßig Touristenbusse zum Chamissoplatz. Japaner mit Kamera um den Hals stürmten durch die Gegend, sogar auf den Hof: Berliner Ureinwohner besichtigen. 1992 kam ich übrigens zurück. Das alles hatte mich nicht losgelassen und ich fing dann an, für 31 Jahre bei der Berliner Stadtmission zu arbeiten. Prima: Bodo war noch eine Zeitlang da.

Das Projekt gibt es heute noch. Büro und Gruppenräume sind nun an der Ecke zur Willibald-Alexis-Straße, da war früher mal die Weinhandlung mit den Südafrikanischen Weinen drin. Gekocht wird wohl noch immer, engagierte Kolleginnen und Kollegen führen die Arbeit weiter. Spinat mit Rühreiern gibt es selten, satt werden nun alle. Und den Weg zurück ins Leben schaffen viele.