Berlin. Von einer Industriebrache zum Vorzeigeprojekt: Seit zehn Jahren werden auf dem Euref-Campus Fragen des Energiesparens erforscht.

Auf der Zufahrt rumpelt es noch genau so, wie es immer war. Aber die Torgauer Straße mit ihrem derben Kopfsteinpflaster führt zu einer weltweit beachteten Modellstadt. Hinter der Baugrube für die neue Gasag-Zentrale ragt der Gasometer 78 Meter in den Schöneberger Himmel, einst einer der größten Energiespeicher Europas.

Rund um das Stahlgerüst von 1910 zeigt der Campus des „Europäischen Energieforums“ (Euref), wie die Energiewende Realität werden kann. Und wie auf einem heruntergekommenen Industrieareal neues Leben einzieht mit Wissenschaft, Global Playern aus der Energiewirtschaft, jeder Menge innovativen Jungunternehmen, exquisiter Gastronomie des einstigen Sternekochs Thomas Kammeier und Beach-Volleyballfeldern. 3500 Menschen arbeiten inzwischen auf dem Campus.

Reinhard Müller ist der Chef des Euref-Campus.
Reinhard Müller ist der Chef des Euref-Campus. © EUREF / Andreas Schwarz | EUREF / Andreas Schwarz

Vor zehn Jahren, am 5. November 2008, stellte Architekt Reinhard Müller im Schöneberger Rathaus seine Pläne vor, an seiner Seite der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD). Die Rede war von einem kohlendioxidneutralen Stadtteil, einem Zen­trum für die Forschung zu allen Fragen der Energie. In der Nachbarschaft stießen die Pläne seinerzeit auf große Skepsis. Eine Bürgerinitiative übte sich in Fundamentalopposition, das Projekt passe nicht in den Kiez. Die Grünen, in Schöneberg wichtige politische Kraft, stellten sich dagegen.

Weltkonzerne und Start-ups arbeiten hier Tür an Tür

Reinhard Müller hat die Widerstände nie so richtig verstanden. „Man hat es wohl einem privaten Investor nicht zugetraut“, sagt der 63-Jährige heute, „die Leute haben einem alles Mögliche unterstellt.“

Aber der Architekt hielt Wort. Der Euref-Campus erfüllt bereits jetzt die Klimaziele der Bundesregierung für 2050. Die Energiezentrale nutzt Biogas aus Brandenburg. 400 Millionen Euro wurden inzwischen auf den 5,5 Hektar östlich der Bahngleise in die Sanierung der historischen Backsteingebäude und in moderne Neubauten investiert. Wenn alles fertig ist, sollen es 600 Millionen sein. Der Euref-Campus ist unter Berlins Zukunftsorten der Einzige, der privat finanziert wurde. 150 Firmen haben auf dem Campus ihren Sitz, darunter Weltfirmen wie Cisco, Schneider Electric und die Deutsche Bahn mit ihrer Engineering-Tochter. Hinzu kommen Start-ups wie der Elektroroller-Vermieter Emmy oder Mint. Diese Firma produziert in Rohrsystemen an Hauswänden für die Ernährungs- oder Kosmetikindustrie Algen, die sehr viel des Klima-Gases Kohlendioxid binden.

Das ist eine große Stärke des Campus: Hier wird nicht nur erfunden, etwa in dem Ableger der Technischen Universität, dem Mercator Institut oder dem Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ), sondern auch ausprobiert. Unbemannte Kleinbusse rollen über das Gelände. Eine selbstfahrende Kehrmaschine der Firma Emway fegt die Blätter zusammen. Elektroautos laden ihre Batterien an Deutschlands größer Solartankstelle. Oder sie hängen ihre Kabel an scheinbar normale Laternen, die die Berliner Firma Ubitricity zu Ladesäulen umrüstet.

Jeden Tag lassen sich Besuchergruppen aus aller Welt erklären, wie die Energiewende praktisch funktionieren kann, ohne dass die Energiekosten hier höher wären als in herkömmlichen Bauvorhaben. Bundesweit bekannt wurde der Euref, als Günther Jauch zwischen 2011 und 2015 seinen sonntäglichen Polit-Talk aus dem Gasometer sendete.

Wenn die Gasag-Zentrale fertig ist, fehlt noch der Kopfbau an der Südspitze des Areals. Und natürlich als Abschluss der Umbau des Gasometers selbst zu einem Kongress- und Bürogebäude. 2023, sagt Müller, zu seinem 70. Geburtstag, soll alles fertig sein. 6000 Menschen sollen dann auf dem Euref-Gelände arbeiten.

Zweiter Campus geplant in ehemaliger Zeche in Essen

Die Mieter kommen fast alle aus den Branchen Energie, Umwelt und Mobilität. Andere Interessenten habe man immer abgewiesen, berichtet Müller, so zuletzt einen großen Pharma-Konzern. Das Profil des Campus und das Zusammenwirken der Anlieger, das sei das eigentliche Kapital des Projekts. „Wir haben Firmen gezogen, die wären sonst gar nicht in Berlin“, sagt Müller selbstbewusst.

Geholfen habe ihm in den vergangenen zehn Jahren weniger die Immobilienkonjunktur in Berlin als vielmehr das niedrige Zinsniveau und der zunehmende Fokus auf Energie- und Mobilitätsthemen. Demnächst werde ein weiterer Konzern zum Euref kommen und sich der Weiternutzung von Autobatterien widmen, verrät der Campus-Gründer. Er selbst dagegen wird seine Schaffensenergie künftig weniger in der Hauptstadt einsetzen. In Essen ist auf dem Gelände der Zeche Zollverein ein zweiter Euref-Campus geplant, auch mit Studierenden, Start-ups und ein paar Unternehmen aus Berlin, die in NRW neue Standorte eröffnen. Für den Gründer bedeutet das fast eine Heimkehr, denn er wurde in Krefeld geboren und kam zum Studium nach Berlin.

Müller zieht es aber noch weiter in die Welt. Gemeinsam mit Stephan Kohler, dem einstigen Chef der Deutschen Energieagentur und Euref-Unterstützer der ersten Stunde, wird er in China verschiedene Städte beraten, wie sie kohlendioxidneutrale Stadtteile errichten können. Der Druck, dort von deutschem Know-how zu profitieren, sei wegen der extremen Smog-Belastung groß. „Wir haben gar nichts neu erfunden“, sagt Müller, „wir haben nur die bestehenden Technologien kombiniert und eingesetzt.“

Sein Namensvetter, der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), würdigt die „rasante Entwicklung“ des Campus, die für die „hohe Dynamik unserer wachsenden Stadt“ stehe: „Hier werden Lösungen erdacht und erprobt, die schon morgen unser aller Leben bestimmen“, sagt Müller.

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