Berlin. Jeder 20. in Deutschland leidet an einer seltenen Krankheit. Betroffene und Ärzte sprachen jetzt in Berlin über ihre Erfahrungen.

Ein zweijähriger Junge hört plötzlich auf zu laufen, weil es ihm Schmerzen verursacht. Jemand entdeckt an sich rätselhafte blaue Flecken oder ist permanent erschöpft – mit derartigen Symptomen suchen Patienten oft einen Arzt auf, ohne dass dieser eine Ursache findet. Ärzte, Familie, sogar Freunde glauben oft, dass es sich um eine psychische Krankheit handelt. „Waisen der Medizin“ werden die vier Millionen Menschen mit seltenen Krankheiten genannt, die es in Deutschland gibt. Am seltensten Tag im Kalender, dem 29. Februar, wurde jetzt am Berliner Hauptbahnhof eine Ausstellung zum Internationalen Tag der seltenen Erkrankungen eröffnet. Betroffene zeigen in Bildern und mit kleinen Texten bis zum 15. März ihr Leiden und ihre Wünsche.

Spezialist der Charité: Besonders Kinder sind betroffen

Kam zur Eröffnung der Ausstellung an den Berliner Hautbahnhof:  Professor Peter Kühnen, Leiter der Pädiatrie im Centrum für Seltene Erkrankungen der Charité.
Kam zur Eröffnung der Ausstellung an den Berliner Hautbahnhof: Professor Peter Kühnen, Leiter der Pädiatrie im Centrum für Seltene Erkrankungen der Charité. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Mehr als 80 Prozent der seltenen Krankheiten seien auf einen angeborenen Gendefekt zurückzuführen, sagt Peter Kühnen vom Berliner Centrum für seltene Erkrankungen (BCSE) der Charité. Kühnen leitet zusammen mit dem Endokrinologen Knut Mai das Centrum, das es seit zehn Jahren gibt. Einmal pro Woche trifft sich das Team mit einigen Fachambulanzen der Charité. Der Kinderarzt hält Früherkennung für entscheidend, um Menschen mit seltenen Erkrankungen eine optimale Therapie und Betreuung zukommen zu lassen.

„Viele Menschen, die zu uns kommen, haben bereits eine enorme Odyssee hinter sich“, weiß Kühnen. Erst seit etwa fünf Jahren sei die Untersuchung des Erbgutes einigermaßen verfügbar und erschwinglich. „Es ist jetzt auch aufgrund des technologischen Fortschritts und dem Zugang zu zusätzlichen Informationen aus großen Datenbanken einfacher“, erklärt der Spezialist. Verdachtsdiagnosen könnten besser überprüft werden. „Anhand der Inititative genomDE wird derzeit versucht, bundesweit die Implementierung der genetischen Diagnostik für bestimmte Themen zu ermöglichen, die dann eine interdisziplinäre Auswertung von Genomdaten zulässt.“ Ein genetischer Code sei ein Wunder, so Kühnen. Ausgerollt wäre ein Genom, das in eine menschliche Zelle passt, 2,50 Meter lang.

Ute lebte über 50 Jahre mit Löchern in der Lunge

Ute Dietrich (64) leidet an einer seltenen Lungenlrankheit namens LAM. Sie häkelt Zebras mit einem rosa Ohr als Symbol für Menschen mit seltenen Erkrankungen.
Ute Dietrich (64) leidet an einer seltenen Lungenlrankheit namens LAM. Sie häkelt Zebras mit einem rosa Ohr als Symbol für Menschen mit seltenen Erkrankungen. © BM | Iris May

Dass Ute Dietrich sich pausenlos erkältet fühlte, nahm sie irgendwann resigniert hin. Aber im Jahr 2013 hustete sie auf einmal Blut. Ein Arzt diagnostizierte bei ihr ein gutartiges Tochtergeschwulst in der Niere. „Ich wurde von vorne bis hinten aufgeschnitten und der Tumor entfernt“, erinnert sich die 64-Jährige. Nebenbei entdeckten die Ärzte, dass Ute Dietrichs Lunge aussah wie ein Schweizer Käse. Sie wurde zu einem Zentrum für seltene Krankheiten überwiesen, das den Grund für ihr Leiden entdeckte: Ein erworbener Gen-Defekt namens Lymphangioleiomyomatose (LAM) ließ ihre Zellen wuchern.

Ihre Lunge nimmt mittlerweile nur 30 Prozent des eingeatmeten Sauerstoffs auf, sie braucht Tag und Nacht einen Sauerstoff-Konzentrator. um zu überleben. Nach Berlin hat Ute Dietrich ihren Mann Rudolf gebracht. Im Arm hat sie aber ein gehäkeltes Zebra. Sie erklärt: „Medizinstudenten lernen, dass sie erst an Pferde denken sollen, nicht an Zebras. Aber Zebras gibt es eben doch, besonders solche mit einem rosa Ohr. Das sind wir: Menschen mit seltenen Krankheiten.“ 150 Zebras hat Ute schon gehäkelt, als Maskottchen. Auch auf ihrem Bild am Hauptbahnhof ist es mit drauf. „Die Menschen sollen uns sehen, verstehen, dass es solche Krankheiten eben gibt.“

Seltene Herzkrankheit: Jessica fiel immer wieder in Ohnmacht

Jessica Wullinger (31) vor ihrem Gemälde „Rebel heart“ (Rebellenherz), das gerade am Berliner Hauptbahnhof ausgestellt ist. Sie leidet an einer seltenen Form der Herzinsuffizienz.
Jessica Wullinger (31) vor ihrem Gemälde „Rebel heart“ (Rebellenherz), das gerade am Berliner Hauptbahnhof ausgestellt ist. Sie leidet an einer seltenen Form der Herzinsuffizienz. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

„Bei uns zuhause ging man nur zum Arzt, wenn man den Kopf unterm Arm trug“, erzählt Jessica Wullinger. Die 31-Jährige lebte 13 Jahre lang unentdeckt mit einer Herzklappenerkankung. Beim Sport saß sie stets auf der Ersatzbank, weil es passieren konnte, dass sie einfach in Ohnmacht fiel. Für das junge Fußball-Talent eine Quelle großer Selbstzweifel, für die anderen Kinder ein Grund sie zu mobben. Am Berliner Hauptbahnhof ist gerade ihr Bild „Rebel heart“ ausgestellt. „Mein Herz ist rebellisch, weil es nicht tut, was es soll. Aber ich möchte auch eine Stimme sein für andere Menschen, denen es ähnlich geht und ich möchte, dass sich das Gesundheitssystem ändert.“

Als Jessica in Großbritannien als Pharmazeutisch-Technische Assistentin arbeitete und wieder einmal Beschwerden hatte, ging sie zu einer Allgemeinärztin, die feststellte, dass mit ihrem Herzen etwas nicht stimmte. Ein Medikament schaffte Linderung. Zurück in Deutschland, war dieses Medikament nur noch auf Privatrezept erhältlich. Jessicas Krankheit verschlechterte sich, sie konnte schließlich überhaupt nicht mehr arbeiten und „rutschte ins Bürgergeld“ ab, wie sie es ausdrückt. „Eine Operation im Kindesalter hätte mir helfen können, jetzt ist es viel schwieriger, mir zu helfen.“

Warum es immer mehr seltene Krankheiten gibt

Jährlich kommen laut der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) zu den mehr als 9000 bekannten seltenen Erkrankungen 150 bis 250 hinzu. „Dieser Wissenskomplex unterliegt einem dynamischen Wachstum, das selbst Expertinnen und Experten staunen lässt“, sagt Helge Hebestreit von der DGKJ-Kommission für seltene Erkrankungen. Warum nehmen die seltenen Krankheiten zu? Teilweise liegt es an einer präziseren Diagnostik von Erkrankungen, die bislang nur unter Sammelbegriffen zusammengefasst werden. So gibt es heute auch häufige Erkrankungen wie z.B. Diabetes, bei denen durch eine gezielte Diagnostik seltene Unterformen erkannt und auch spezifisch behandelt werden können. Diese Entwicklung wird in den nächsten Jahren zunehmen und damit viele neue „seltene Erkrankungen“ hervorbringen.

Nur alle 4 Schaltjahre: Der „Rare Disease“-Spendenlauf

Eine der Teilnehmerinnen des „Rare Disease Run“ am Berliner Hauptbahnhof. Mitmachen kann jeder, der mindestens 500 Meter zurücklegen kann. Der Spendenerlös kommt 22 Vereinen für seltene Krankheiten zugute.
Eine der Teilnehmerinnen des „Rare Disease Run“ am Berliner Hauptbahnhof. Mitmachen kann jeder, der mindestens 500 Meter zurücklegen kann. Der Spendenerlös kommt 22 Vereinen für seltene Krankheiten zugute. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Wer Menschen mit seltenen Krankheiten unterstützen und zugleich etwas für die eigene Gesundheit tun will, kann dieses Jahr wieder am „Rare Disease Run“ teilnehmen, der zum dritten Mal stattfindet. Einfach auf der Website der Elterninitiative Syngap anmelden und loslaufen: Bereits 500 zurückgelegte Meter zählen, auch im Rollstuhl. In den vergangenen zwei Jahren hat die Initiative insgesamt rund 5000 Läufer bewegt und über 50.000 Euro Spenden erlaufen. Auch dieses Jahr geht der Erlös an rund 30 Vereine von Menschen mit seltenen Krankheiten.