Berlin. Heben Sie auch gern Zeitungsartikel auf? Wir haben Morgenpost-Leser gefragt, welche Lebensgeschichten sie damit verbinden.

Im Vorfeld des 125. Gründungstages der Berliner Morgenpost haben wir vor Wochen gefragt: Welchen Artikel haben Sie aufgehoben und was verbinden Sie damit? Seitdem erreichen uns zahlreiche handgeschriebene Briefe, Fotos, liebevoll gesammelte Zeitungsartikel und ausführliche Berichte. Wir sagen also zunächst: Vielen, vielen Dank! Und bitten um Nachsicht, dass wir nicht jedem von Ihnen persönlich antworten können.

Wir sehen, dass Sie die Morgenpost gern lesen – sehr genau und manchmal auch sehr kritisch, und auch das freut uns. „Mein Tag beginnt mit einem Kaffee und der Zeitung auf dem Küchentisch“, diesen Satz haben wir mehr als einmal gehört. Vor allem aber lesen viele unserer Abonnenten „ihre“ Morgenpost schon seit Generationen. Leserin Ingrid Rohn etwa schreibt: „Ich habe eine komplette Sonderausgabe zu 60 Jahren Morgenpost aufgehoben. Die Ausgabe von 1958 stammt noch von meinen Eltern, die damals schon ein Abo hatten. Ich habe das Abo dann 1972 nach meiner Heirat übernommen.“

Norbert Nakielski (75) aus Mariendorf ist buchstäblich mit der Morgenpost aufgewachsen. „Meine Mutter hat sie für mich als Kind abonniert, damit ich lesen lernte und mich informierte“, sagt er. „Später haben meine Frau und ich uns über die Morgenpost kennen gelernt, wir haben unser Haus über eine Immobilienanzeige gefunden – und die Morgenpost hat auch schon über uns berichtet.“ Norbert Nakielski ist als Drehorgelspieler nicht ganz unbekannt in Berlin. Und steht damit zugleich für eine der besonderen Traditionen dieser Stadt.

Margot Dame ist Morgenpost-Leserin geblieben – bis heute

Aus den vielen Zuschriften und Erzählungen ergibt sich nicht nur eine schöne Geschichte der Berliner Morgenpost – sondern vor allem eine Geschichte Berlins. Anhand von Zeitungsberichten erzählen uns unsere Leserinnen und Leser, wie sie selbst den Krieg selbst erlebt haben. Familiengeschichten spiegeln das geteilte wie auch das wiedervereinte Berlin. Und natürlich die Gegenwart dieser wunderbaren, manchmal anstrengenden Stadt.

Das wohl niedlichste Foto hat uns Margot Dame gesendet. „Liebe Berliner Morgenpost! Zum 125. Geburtstag ein Bild von mir: Margot Dame, geb. Lehmann. Heute bin ich 83 Jahre alt. Und bis heute lese ich immer gerne die Berliner Morgenpost.“

Wann genau das Schwarzweiß-Foto (oben) des kleinen Mädchens mit Morgenpost auf dem Küchenstuhl entstand, weiß Margot Dame nicht mehr genau. Die Schlagzeilen lassen darauf schließen, dass es zu Kriegszeiten gewesen sein muss. Margot Dame ist 1939 geboren, auf dem Foto ist sie etwa vier Jahre alt. „An unsere Küche erinnere ich mich gut – das war in Biesdorf, wo meine Eltern damals ein Lebensmittelgeschäft hatten.“

Es wurde eine Liebe fürs Leben

Leserin Margot Dame heute.
Leserin Margot Dame heute. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Warum das Foto entstand, weiß sie nicht mehr. „Ich konnte ja noch nicht mal lesen.“ Vielleicht war es genau das, was die Mutter an ihrem kleinen Mädchen so niedlich fand. Das „Zeitunglesen“ fängt ja als Spiel lange vorm Lesenlernen an.

Margot Dame ist Zeitungsleserin geblieben. An dem Tag, als wir sie besuchen, liegt ein Artikel aufgeschlagen auf dem Tisch: Die Serie zur 125-jährigen Geschichte der Morgenpost. „Heute ist ein besonderes Datum dran“, sagt sie und lächelt. An diesem Tag vor knapp 70 Jahren war sie als 15-jähriges Mädchen auf dem Weg ins Kino – und fragte aus einer Laune an der Bushaltestelle mutig ein paar Jungs: „Wer kommt mit?“ Einer sagte tatsächlich Ja. Klaus, 17 Jahre alt. Es wurde eine Liebe fürs Leben.

2021 ist ihr Mann gestorben. Wenn sie heute in der Morgenpost Artikel aus der damaligen Zeit liest, sagt Margot Dame, dann ist es immer auch ein Blick auf ihr eigenes Leben, das wiederum typisch ist für das vieler Berliner. Ihr Vater wurde als Soldat eingezogen und kam nicht wieder. Erst spät erfuhr sie, dass er wohl gefallen war. Für zwei Jahre nahm die Stasi dem Mädchen Margot die Mutter – diese wurde denunziert und inhaftiert, weil sie im mangelgeplagten Ostteil West-Lebensmittel verkauft hatte. In der heutigen Zeitung, sagt Margot Dame, interessieren sie die politischen Artikel und Kommentare, etwa zum Krieg gegen die Ukraine oder zu den Klimaprotesten. Auch wenn sie nicht immer mit allem einer Meinung sei, was sie liest: „Ich möchte mir selbst eine Meinung bilden.“

Das Model in der Zeitung – und die Frauenbiografie dahinter

Leserin Uta Detken mit dem Artikel, am 18. April 1963 über sie erschien (sie ist das Model im Foto links).
Leserin Uta Detken mit dem Artikel, am 18. April 1963 über sie erschien (sie ist das Model im Foto links). © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Das Foto von Uta Detken in der Morgenpost-Ausgabe vom 18. April 1963 war deutlich größer als der Artikel und man ahnt, warum: Es lag am gut aussehenden Motiv. „Amateur-Schneiderinnen auf dem Laufsteg“ lautete die Überschrift. Zu sehen waren zwei junge Frauen, von denen eine der anderen gerade ein Diadem im Haar richtete – Uta Detken. Den Artikel hat sie bis heute aufgehoben. „Ich habe seit Kinderzeiten gerne genäht, bis heute“, sagt Uta Detken. Sie ist 83 Jahre alt.

Anfang der 1960er-Jahre nahm sie mit eigenen Kreationen an Amateur-Wettbewerben teil. Dreimal kam sie auf die „Plätze“, einmal siegte sie in Berlin und durfte zum Bundeswettbewerb nach Baden-Baden fahren. Das Kleid auf dem Foto, sagt sie, sei eigentlich leuchtend türkis gewesen, doch damals gab es noch keine Farbfotos in der Zeitung. Umso lebhafter ist ihre Erinnerung. „Mode war eigentlich immer mein Traumberuf.“

Doch es kam anders. Uta Detken besuchte die Handelsschule, ging zur Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Mitte der 1960er-Jahre kamen die beiden Töchter zur Welt, „Wunschkinder“, sie lächelt. Für die Kinder gab sie den Beruf auf. „Ich wollte es so und fand es richtig.“ Was blieb, war die Liebe zum Nähen. „Gerade habe ich mir wieder einen Rock gekürzt.“

Hilfe für einsame Menschen – mit der Morgenpost

Und die Morgenpost, die blieb auch. Auch bei Uta Detken liegt die Morgenpost-Jubiläumsserie auf dem Tisch. Der aktuelle Artikel handelt vom Krieg. „Wenn ich die Bilder sehe, habe ich sofort wieder den verbrannten Geruch in der Nase, ich höre die Sirenen. Wenn wir meine Oma in Schöneberg besuchten, mussten wir regelmäßig bei Bombenalarm in den Keller. Ich nahm dann jedes Mal meine Puppen und deren wichtigste Sachen mit...“ Auch ihr Mann starb vor eineinhalb Jahren. Mit den Töchtern hält sie per Smartphone Kontakt, sie leben weit weg. Aber immerhin, da ist noch die Zeitung. „In meiner Familie wurde immer die Morgenpost gelesen, schon meine Großeltern hatten sie abonniert. Die Morgenpost gehört für mich dazu wie ein Familienmitglied.“

Die Idee hatten eigentlich seine Eltern aus der Berliner Morgenpost, sagt Leser Michael Fröhlich, er ist 77 Jahre alt. Sein Artikel datiert aus dem Jahr 1960. Damals wurden junge Menschen gesucht, die bereit waren, älteren Menschen zur Weihnachtszeit eine kleine Freude zu machen. „Nicht nur die Rentnerin Anna Oehmke, über deren Schicksal wir am Sonntag berichteten, ist allein – Tausende von Berlinern warten zu Weihnachten auf ein liebes Wort, einen Besuch“, hatte die Morgenpost damals geschrieben.

Morgenpost-Artikel ist auch nach 63 Jahren noch erhalten

Leser Michael Fröhlich (r.) und sein Jugendfreund Harold Selowski mit dem Artikel, der am 23. November 1960 über sie in der Berliner Morgenpost erschien.
Leser Michael Fröhlich (r.) und sein Jugendfreund Harold Selowski mit dem Artikel, der am 23. November 1960 über sie in der Berliner Morgenpost erschien. © FUNKE Foto Services | Michele Tantussi

Insgesamt fünf Neuköllner Schüler hatten sich gemeldet, legten Taschengeld zusammen, oder dachten sich eine Überraschung aus. So auch Michael Fröhlich und sein Freund Harold Selowksi aus dem Haus nebenan. Fröhlich war 14, Harold 11 Jahre alt. „Wir sind befreundet, seit wir kleine Kinder waren – bis heute.” Harolds Vater war Dirigent, „er spielte Klavier und besaß auch ein Xylophon.” Gemeinsam hätten sie dann für die alten Menschen Weihnachtslieder gespielt und gesungen, berichtet Fröhlich und lacht.

•Wie Berliner Helfen e.V., der Verein der Berliner Morgenpost, heute Menschen in Berlin unterstützt

Dass der Morgenpost-Artikel darüber nach 63 Jahren noch erhalten ist, sei seinem Freund Harold zu verdanken, sagt Michael Fröhlich. „Er hat als Polizist auch das Polizeimuseum am Platz der Luftbrücke betreut und hebt gern Dinge auf.“ Aber es sagt vor allem auch etwas über die lebenslange Freundschaft der beiden – die auch auf Musik gründete. 1973 gründeten die beiden eine Band, als „Soundmen Music“ füllten mit ihren Oldies Säle wie die Britzer Mühle. Vor Kurzem habe die Band sich zwar aufgelöst, sagt Fröhlich. „Aber man weiß ja nie.“

Manchmal erstaune es ihn selbst, sagt Fröhlich, dass sie heute selber längst im Rentenalter seien. Wenn ihnen jüngere Menschen heute mit Rücksicht und Respekt begegneten, freue ihn das. Aktionen wie die Weihnachts-Überraschung seien heute vielleicht etwas altbacken. „Aber grundsätzlich freut sich doch jeder Mensch über ein freundliches Wort und etwas Aufmerksamkeit – und auch, wenn man darüber liest.“

Geheimnisvolle Fundstücke in Schränken und Altbauwohnungen

Sammelkarten für Morgenpost-Abonnenten, 1909.
Sammelkarten für Morgenpost-Abonnenten, 1909. © BM | Privat

Es geschieht immer wieder, dass in Berlin in alten Schränken oder beim Renovieren alte Zeitungsausgaben oder auch bunte Sammelbilder der Berliner Morgenpost gefunden werden. Was Anno 1909 oder auch 1928 vielleicht einfach nur Altpapier oder Dämmmaterial war, wird 100 Jahre später zum spannenden, manchmal auch rätselhaften Fund. So entdeckte Leserin Elena Köhler in ihrer Kreuzberger Altbauwohnung hinter einer Fußleiste einen Stapel kleiner Karten mit bunte Zeichnungen – und schickte sie an die Redaktion. „Unter meinem Fußboden wären sie sicher auf Dauer nicht so gut aufgehoben gewesen.“

Die Kärtchen dienten zu Zeiten, als es noch keine Überweisungen gab, als Abo-Quittungen. Einmal die Woche kam der Zeitungsmann an die Haustür und kassierte. Im Gegenzug gab es ein buntes Sammelbild, auch als Anreiz, das Abonnement weiterzuführen. Die Morgenpost-Sammelalben aus Natur, Wissenschaft, Kunst und Kultur gab es über viele Jahrzehnte, sie finden sich bis heute in vielen Berliner Haushalten. Teilweise arbeiteten daran namhafte Künstler und Wissenschaftler mit. Etwa die Zoologin Katharina Heinroth, von 1945 bis 1956 Zoodirektorin Berlins.

„Die neuen Professoren-Exzellenzen“, titelt die Berliner Morgenpost am 12. Oktober 2010. Gefunden hat das Relikt Werner Brehmer.
„Die neuen Professoren-Exzellenzen“, titelt die Berliner Morgenpost am 12. Oktober 2010. Gefunden hat das Relikt Werner Brehmer. © BM | Werner Brehmer

„Die neuen Professoren-Exzellenzen“, titelt die Berliner Morgenpost am 12. Oktober 2010. Unter gezeichneten Porträts stellte die Zeitung fünf Wissenschaftler vor, deren Namen auch heute noch geläufig sind, etwa Theologe Adolf Harnack oder der Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Die Seite mit den Porträts tauchte 113 Jahre später unter alten Fußbodendielen wieder auf. „Wir haben sie zusammen mit historischen Tüten für Kaffee, Tabak und einer Rechnung beim Renovieren gefunden, schreibt Leser Werner Brehmer. Nun hängt sie wie ein archäologisches Relikt hinter Glas an der Wand.

Auf der Ausgabe vom 13. August 1961 steht: „Das Jahr unserer Hochzeit“

Bei Leser Jochen Rosche hängt wiederum tauchte eine Morgenpost-Seite vom 21. Juli 1928 auf. Er war bei Abrissarbeiten eines altes Hauses darauf gestoßen, schreibt er. In den Morgenpost-Nachrichten 21. Juli 1928: Auch die Berliner Bushaltestellen bekommen nun Fahrpläne – nach dem Vorbild der Straßenbahnen. In Heiligensee ist ein „Privatauto“ gegen einen Baum gefahren, „der Schofför wurde sofort getötet“. In der Uhlandstraße hat sich eine 58-jährige Frau aus dem dritten Stock in den Tod gestürzt, „Ursache war wirtschaftliche Not“ – 1928 stand die Weltwirtschaftskrise vor der Tür.

Manfred Beck hatte allein aus beruflichen Gründen viel mit der Morgenpost zu tun – er war über Jahrzehnte Techniker und Fotograf beim Axel-Springer-Verlag, in dem die Morgenpost bis 2014 erschien. So sehr ihn Technik begeisterte – auch er ahnte wohl, dass die Kulturtechnik des klassischen Zeitungslesens durch die Digitalisierung, Tablets und Handys irgendwann zurückgedrängt würde. So überzeugte er schon früh seinen Enkel Tim, heute 21 Jahre alt, vom Zeitunglesen. „Das machte Tim anfangs mehr Spaß, als in die Schule zu gehen, erinnert sich Tims Oma, Sibylle Beck.

Ihr Mann glaubte immer an eine Wiedervereinigung

Leser Tim, heute 21 Jahre alt. dessen Opa über Jahrzehnte für den Axel-Springer-Verlag arbeitete.  
Leser Tim, heute 21 Jahre alt. dessen Opa über Jahrzehnte für den Axel-Springer-Verlag arbeitete.   © BM | Sibylle Beck

Sie hat unzählige Sonderausgaben und Morgenpost-Artikel aufgehoben, auch als Erinnerung an ihren Mann, der 2017 starb. Einen besondere Bedeutung hat für sie die Sonderausgabe vom 13. August 1961. „Brandt fordert energische Schritte der Westmächte“, lautet die Schlagzeile. Fotos zeigen Soldaten vor Stacheldraht, das abgeriegelte Brandenburger Tor, Panzer an der Sektorengrenze in Wedding.

Während die Welt im Sommer 1961 fassungslos auf den Mauerbau in Berlin schaute, bereiteten die Becks ihre Hochzeit vor. „Wir wohnten in Staaken, das durch den Mauerbau geteilt wurde.“ Ein Onkel, der auf der DDR-Seite lebte, durfte zur Hochzeit nicht mehr dabei sein. „Wir dachten ja anfangs, die Teilung wäre nicht von Dauer“, sagt Sibylle Beck. Ihr Mann habe, wie viele der damaligen Morgenpost-Redakteure, immer an eine Wiedervereinigung geglaubt, sagt sie, „selbst als es fast niemand mehr für realistisch hielt.“